"Ihr seid lebendige Steine." Wort auf den Weg

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Lebendige Steine bauen eine lebendige Kirche, die Gott wohlgefällt und unsere Gemeinschaft schützt. Dialog-Predigt von Pfarrerin Miriam Gehrke und Pfarrer Roland Diethelm zu 1. Petr 2,4-5 im Gottesdienst vom 18. August anlässlich des 50 jährigen Jubiläums des Stadtverbands der evangelisch-reformierten Kirchgemeinden Schaffhausen.
Pfr. Roland Diethelm,
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!

ROLAND: Einleitende Gedanken
Abgelegt habt ihr nun alle Bosheit, alle Arglist, Heuchelei und Missgunst und alle üble Nachrede.
Verlangt jetzt wie neugeborene Kinder nach der vernünftigen, unverfälschten Milch, damit ihr durch sie heranwachst zum Heil, 3 falls ihr je geschmeckt habt, wie gütig der Herr ist. … Ihr seid die, die einst kein Volk waren, jetzt aber das Volk Gottes sind, die einst keine Barmherzigkeit erlangten, jetzt aber Barmherzigkeit erlangt haben.

„Abgelegt habt ihr, damit ihr nun heranwachst.“
Die, welche Petrus anspricht, scheinen aus einer Schale herausgekrochen zu sein, so wie ein Tier, das in einem zu engen Haus war. Ein Weichtier. Das ist nun ganz verletzlich, nackt, bis es ein neues Haus um sich gebaut hat, eine neue Schale aufgebaut oder gefunden hat.
Christen sind Weichtiere. Was die Christen heraus gelockt hat aus ihrer alten Schale, aus ihrem alten Haus, aus ihrem alten Gemäuer, ist aber nicht das zu eng gewordene Gehäuse, es ist der Geschmack der Güte Gottes, der Geschmack des Guten Gottes.

Abgelegt hätten Sie alle Arglist, Heuchelei, Neid, alle bösen Regungen und Ränke, einfach alles das, was zum alten Haus gehört hat. Geschmeckt haben Sie das Heil. Daraufhin haben sie ihren alten Status verlassen, sich zum neuen aufgemacht. Jetzt müssen sie wachsen mit der Milch, die Petrus anbietet. Jetzt sollen sie gut gefüttert werden und wie eine Made im Speck heranreifen zu ihrer neuen Existenz. Wir Christen sind Weichtiere im Speck der Gnade.

Neugeborene Kinder charakterisiert diesen Status-Wechsel. Unbehaust ist man und wie kleine Kinder auf Schutz angewiesen. Petrus nennt es das Heil. Und das Heil besteht in der Barmherzigkeit. Sie haben Barmherzigkeit erlangt. Gott hat sie aufgenommen in seine Barmherzigkeit.

Bevor wir uns mit dem neuen Lebensstatus, mit dem neuen Dasein, dem neuen Raum beschäftigen, erinnern wir uns daran: wir haben geschmeckt, wie gütig der Herr ist.

Wir fragen uns: haben wir den Geschmack des Heils gekostet? Was hat uns heraus gerufen aus der alten Existenz, angelockt in die neue?
Bevor wir uns Gedanken zur neuen Behausung machen: was hat uns heraus gerufen in die neue Existenz der Kinder Gottes?

MIRIAM: Am Heil geschmeckt
Ich hatte das Glück, von klein auf etwas von dieser schmackhaften Nahrung zu bekommen. Wenn ich zurückdenke, fallen mir ganz unterschiedliche Geschmackserlebnisse in verschiedenen Räumen ein:
- Wenn ich bei meiner Grossmutter auf dem Sofa lag, Kakao trank und sie mir Geschichten aus der Kinderbibel vorlas. Das schmeckte scharf und süss nach Abenteuer und Geborgenheit
- Wenn ich beim Kirchentag in der U-Bahn fuhr und plötzlich jemand anfing eins der Kirchentagslieder zu singen, die unter die Haut gehen, und immer mehr stimmen ein und wir spüren, da ist etwas, wie ein guter Geist zwischen uns, das schmeckte süffig und berauschend nach Fest und Gemeinschaft
- In einer alten Kirche als das Duett aus Mendelssohns Paulus «So sind wir nun Botschafter an Christi statt» mir Gänsehaut machte. Das schmeckte würzig wie ein alter, lang gereifter Wein
- In den lichtdurchfluteten Räumen einer evangelischen Akademie, wo frei gedacht und hart miteinander gerungen wurde, wo Politik, Wirtschaft oder Kunst mit am Tisch sassen, wo Bibel feministisch gelesen und fernöstliche Meditation eingeübt wurden. Für mich schmeckte es salzig, nach Meer und weitem Horizont.
- In einem Haus der Stille, wo ich mich auf die Suche nach Gott machte und mich übte im Hören, Schweigen und im Schmecken von Worten. Ein überraschendes, nahrhaftes Geschmackserlebnis
- Im Pfarrgarten in Rom nach dem Gottesdienst, wo es keine Rolle spielt, ob du in einer Dachkammer oder einem Palazzo wohnst, ob du in der Botschaft, bei der FAO, in Cinecitta oder als Hausfrau arbeitest. Wo Brot, Wein und Lebensgeschichten miteinander geteilt werden und alle dieselbe Sehnsucht treibt: ein Stück Heimat spüren in der Fremde
Kirche schmeckt mir überall dort, wo ich etwas erlebe, das mich berührt. Wo ein Funke überspringt, wo ich überrascht werde, aufhorche, mich selbst vergesse und etwas Neues wage.
Mir schmeckt Kirche, wo Menschen sich etwas trauen, und Gott etwas zutrauen, wo Raum ist für Träume und auf die Liebe gebaut wird, trotz allem.
Mir schmeckt Kirche, wo Fragen in die Mitte gestellt werden, wo Menschen ermutigt werden, eigene Antworten zu suchen, neue Wege einzuschlagen und mitzubauen am Haus Gottes.

Wonach schmeckt dein Glaube? Welche Würze gibt er deinem Leben?

ROLAND: Am Heil geschmeckt
Am 15. Oktober 2015 kam Ursli mit den struppigen, schwarzen Haaren, den zu kurzen Hosen und der Zipfelmütze ins Kino. Der Schellen-Ursli-Film von Regisseur Xavier Koller zaubert Gross und Klein ein Lachen ins Gesicht.

Uorsin muss im Sommer seinen Eltern bei der Arbeit auf der Alp helfen. Er ist befreundet mit der gleichaltrigen Seraina, die ebenfalls mit ihren Eltern den Sommer im nahe gelegenen Maiensäss verbringt. Sein ganzer Stolz ist sein Zicklein Zilla. Als der reiche Ladenbesitzer Armon und sein Sohn Roman die Alp besuchen, stellt sich heraus, dass Uorsins Familie bei ihm Schulden hat. Da bei der Alpabfahrt ein Teil der Ernte verloren geht, ist an eine Rückzahlung nicht zu denken und der Familie steht ein entbehrungsreicher schlimmer Winter bevor. Armon will die Notlage der Familie ausnützen, um an die Alp zu kommen, auf die er schon lange ein Auge geworfen hat. Zudem besteht er darauf, dass sein Sohn Roman Uorsins Zicklein erhalten soll.
Um an die Alp und das Zicklein zu gelangen, nutzen sie nicht nur das Schicksal aus, sie helfen ihm auch noch nach. Sie inszenieren einen Käsediebstahl und schieben diesen dem verzweifelten Ursli in die Schuhe.

Der Dorfpfarrer kommt ihnen auf die Schliche. Die reformierte Kirche in Giarsun ist einer der Drehorte des Schellen-Ursli Films gewesen. In dieser Kirche stellt der Pfarrer den bösen Armon und seinen Sohn Roman vor den Pranger; vor versammelter Gemeinde, das ganze Dorf hat sich zur Bussfeier am Gründonnerstagabend in der Dorfkirche eingefunden, muss er die ganze Geschichte vom gestohlenen Käse vor der Gemeinde preisgeben. Als Armon alles gesteht, wird die Szene von der Chalandamarz-Lawine unterbrochen.

Meine Erfahrung mit dem Glauben erfragst du. Warum hänge ich an der Kirche? Woran habe ich Gott geschmeckt? Gott ist gut. Nicht gütig in einem herablassenden Sinn. Gut von Wesen. Gott tut gut. Gott tut einer Gemeinschaft gut. Dieser Dorfgemeinschaft tut Gott gut. Er tut auf zweierlei Weise gut: zum einen durch den beherzten Pfarrer, der vom bösen Plan erfährt und ihn durchschaut und anprangert. Und zum anderen durch die Bussfeier in der Kirche, die das Modell und den Raum für die Busse und Reue bildet.
Man könnte auch sagen: das liturgische und das ethische Christentum greifen ineinander und bilden gemeinsam eine lebendige Kirche. Dieses Heil schmeckt gut.

ZWISCHENSPIEL (ORGEL)

MIRIAM: Assoziation zu Steinen
“Lasst euch selbst aufbauen als lebendige Steine…»
Das Bild wechselt von den Neugeborenen zu Steinen.
Ich mag Steine.
Ich mag die Schönheit der glatten Kiesel am Strand, irgendwann einmal mitgerissen, in unzähligen Bewegungen, Begegnungen geformt und dann irgendwann angeschwemmt liegen sie da. Einen habe ich immer in der Tasche vom letzten Urlaub. Ein winziges Stück Erinnerung, und Mahnung: auch ich werde geformt, reibe mich auf, und wie steht es mit meinen Ecken und Kanten?
Ich mag die raue Oberfläche von ganz alten Steinen, die viele Geschichten erzählen könnten. Ich mag es, mich an die Mauer in einer alten Kirche zu lehnen, zu spüren, wie sie mich hält. So wie sie schon viele gehalten hat. Ich stelle mir vor, wieviele Hände sie schon berührt haben, wieviele Worte und Klänge sie empfangen und zurückgeworfen hat, wie Feuchtigkeit, Kälte und Kerzenrauch sich in ihr festgesetzt haben. Wie sie sich verändert hat und doch ihrer Aufgabe treu blieb – standhaft zu bleiben, Schutzraum und Resonanzraum für alles, was uns bewegt.
«Ihr seid lebendige Steine!»
Mir gefällt der Gedanken, ein lebendiger Stein zu sein. Weil es ein Widerspruch ist, eine Herausforderung für das Denken.
Etwas in mir wäre gerne ein glatter schöner Kiesel, einer der Freude macht, nicht aneckt, niemand wehtut, sondern gut in der Hand liegt.
Ein grösseres Teil in mir wäre lieber ein Naturstein mit Ecken und Kanten. Auch wenn ich mal anecke oder sich jemand an mir stösst. Zum Bauen braucht es Kanten. Ich möchte eine sein, auf die man bauen, sich verlassen kann. Teil von einem grösseren Ganzen, gemeinsam mit anderen. Ein Baustein von vielen, der am richtigen Ort ist, eine eigene Aufgabe hat aber nur mit anderen zusammen Sinn macht. Mir gefällt der Gedanke, dass im Hintergrund jemand ist, die dieses Gebäude will, den Bau mit Liebe, Kreativität und Gelassenheit begleitet, den lebendigen Steinen auch die Freiheit lässt, den Standort zu wechseln, eine neue Form zu bekommen. Sicher kommt auch mal etwas ins Wanken und stürzt ein. Doch die Baumeisterin beruhigt: Habt keine Angst! Jetzt braucht es Platz für Neues. Kommt, packt mit an!
Wir sind lebendige Steine. Und Gott baut auf uns. Auch hier in Schaffhausen.
ROLAND: Exegetische Impulse
“Lasst euch selbst aufbauen als lebendige Steine zu einem geistlichen Haus, zu einer heiligen Priesterschaft, um geistliche Opfer darzubringen, die Gott angenehm sind”

Vor unserem inneren Auge wird ein Gebäude wird gebaut, ein Schutzraum aus vielen Steinen, ein umfriedeter Altarraum, in dem die Opfer dargebracht und zelebriert werden können – und das Ziel heisst: werden wir eine geistliche Gemeinschaft, die Gott wohlgefällige Opfer bringt; uns ist verheissen, ein königliches Priestertum aller Gläubigen zu sein – wie können wir das verstehen?

Petrus beschreibt seine Anleitung zum Gemeinde-Aufbau mit einem ganz klassischen Bild: da wird ein Haus gebaut. Ein Raum, der dazu dient, die Opfer zu bringen, den Kult zu feiern, der die Menschen mit ihrem Gott verbindet, ein regelrechtes Gotteshaus der Antike. Die Kirche aus Stein ist sein Sinnbild für die Kirche aus Menschen, die Gemeinde.

Die Menschen, die Petrus damals angesprochen hat, leben in verschiedenen Provinzen Kleinasiens in einer reichen, bevölkerungsreichen und traditionsreichen Provinz des römischen Reiches. Sie leben in der Diaspora, in der Zerstreuung. Ihre Gemeinschaft bildet wahrscheinlich eine kleine Minderheit. Von anderen Gruppen unterscheiden sie zwei Charakterzüge: Das eine ist ihre Unschuld im Umgang mit anderen Menschen. Alles arge und böse hätten sie abgelegt, so attestiert es ihnen Petrus eingangs. Das andere ist ihr Glaube, die Fundamente der Schöpfung erkannt zu haben. Die Propheten, die Lehrer Israels haben geweissagt für euch: Gott, der die Welt geschaffen hat im Anfang, der durch die ganze Bundegeschichte mit seinem Volk immer wieder gesprochen und gehandelt hat, den Sinn der ganzen Schöpfung und Bundesgeschichte hatte er ihnen offenbart in der Auferstehung Jesu von den Toten.

Ein Gebäude erhebt sich, wird zum Zeichen im Umland, in Dorf und Stadt. Ein Gebäude birgt die Menschen und Güter, welche sich darin befinden. Es schützt vor Wind und Wetter, vor Feinden und wilden Tieren.

Unsere Kirche unserer Gemeinde, unsere Gemeinschaft wird mit einem Gebäude verglichen. Ein geistliches Gebäude. Wozu erhebt es sich? Was zeigt es? Welches Wort bezeugt es?
Was birgt es? Was schützt es? Was hält umschlossen?

MIRIAM: eine geistliche Immobilienstrategie
Es geht um eine geistliche Immobilienstrategie. Gott baut mit uns und für uns. Einen Ort, an dem es gut tut zu sein. Weil dort all das draussen bleiben muss, was uns das Leben so bitter macht: was uns verletzt, demütigt und einen Stempel aufdrückt – alles was der Liebe und Wahrheit widerspricht, muss vor der Tür bleiben. Spürt ihr das Aufatmen drinnen? Wie gut es tut, dort zu sein? So wie ich wirklich bin? Ohne Maske, ohne die Angst, nicht genug zu sein oder zu haben? Hier bin ich wichtig als kleiner Baustein in einem wundervollen Bauwerk. Gemeinsam mit Menschen aus der ganzen Welt. Die Türen stehen offen und überall wird immer weiter gebaut, umgebaut, angebaut. Weil es ein Lebensort ist und Leben sich verändert. Hier wird diskutiert und gestritten, Pläne geschmiedet, Feste gefeiert, gesungen getanzt, um Worte gerungen und Versöhnung gelebt. Es ist keine heile Welt, aber ein Gotteshaus. Gott geht hier mit uns ein und aus, hört zu, nimmt in den Arm, tröstet, bringt zum Lachen und stellt immer die richtigen Fragen. Hier ist die Gemeinschaft der Einzigartigen, die mit Gott leben, lieben und ringen. Und Gott hat ihre Freude an uns. Meistens.

ROLAND: zum Abschluss
Der Kirchenraum – tote Steine, alt ehrwürdiges Gemäuer, wird so zu einem Schutzraum geben für lebendige Steine, für uns Menschen. Du, Miriam, hast es eine geistliche Immobilienstrategie genannt. Das verbindet unseren Petrus und seinen Gemeindeaufbau mit unserem Jubilar, dem Stadtverband. Immobilienstrategie. Eine Immobilienstrategie gehört ja auch zu seinen Aufgaben. Und ich möchte dieser geistlichen Immobilienstrategie als ersten Paragrafen mitgeben: Habt keine Angst vor dem leeren Raum! Hier mitten in der Stadt. Wo draussen Kirche draufsteht, soll drinnen auch der Begegnungsort mit Gott Raum haben. Natürlich kann Gott mir überall begegnen. Im Frühlings- und Herbstwald auf dem Randen mit seiner Ruhe. In den Thurauen mit ihrem unheimlichen Echo. Oder wenn auf dem Seerücken beim Wandern sich plötzlich eine neue Geländekammer auftut, dann stimmt sich das Herz ein auf ein erhabenes Gefühl. In der Gemeinschaft, unter Menschen, hilft das steinerne Gemäuer, hilft der leere Raum mitten in der umtriebigen Stadt. Häuser Gottes und Häuser der Gemeinde sind unsere Kirchen, weil sie von aussen auf das hinweisen, was sie innen bergen. Nicht Gott braucht die Mauern, sondern wir brauchen sie. Weil unser rastloser Geist eine Umfriedung nötig hat, um sich auf das Heilige in der Gemeinschaft einzulassen. Diese noble Aufgabe umfasst das Liturgische und das Ethische am Christentum: lebendige Steine.

Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.