In der Dialogpredigt zum eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag haben Pfr. Roland Diethelm und Historiker Josef Lang sich von Paulus' Antwort auf die Devise "Alles ist erlaubt" inspirieren lassen. Josef Lang zeigt aus der Entstehungszeit unseres modernen Gemeinwesens - die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 - eine Anwendung dieses Diskurses um den rechten Gebrauch der Freiheit.
Roland Diethelm,
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater,
und dem Herrn Jesus Christus!
Liebe Gemeinde
Der Erste Korintherbrief wurde von Paulus an die Gemeinde in Korinth geschrieben, eine Gemeinde, die er selbst gegründet hatte. Korinth war eine bedeutende Hafenstadt im Römischen Reich, bekannt für ihren Reichtum, ihre kulturelle Vielfalt, aber auch für moralische Dekadenz.
Die Gemeinde, jung und zerbrechlich, hin und her gerissen zwischen Hochmut und Verwirrung, ringt mit sich selbst.
Paulus, der einst diese Gemeinde mit einem flammenden Herzen gründete, schaut nun von fern auf sie, wie ein Vater auf ein Kind, das seine eigenen Wege sucht und sich doch verstrickt. Er ist nicht nur Mahner, sondern auch Tröster, nicht nur Lehrer, sondern Bruder, der mitgeht in der Unsicherheit des Anderen.
Die Gemeinde war von zahlreichen internen Spannungen geprägt, darunter Streitigkeiten, Spaltungen und moralische Verfehlungen. Paulus reagiert auf diese Missstände und gibt der Gemeinde Anweisungen, wie sie ihr Leben und ihre Gemeinschaft auf das Evangelium ausrichten kann.
Er spricht verschiedene Themen an, wie Streitigkeiten zwischen den Gemeindemitgliedern, sexuelle Unmoral, die Bedeutung der Ehe, die Rolle von Frauen im Gottesdienst und den richtigen Umgang mit den Gaben des Heiligen Geistes.
Die Gemeinde in Korinth war aber vor allem Problematischen und Unmoralischen eine charismatische Gemeinschaft. Eine Versammlung begeisterter Menschen. Und der Brief ist eines der frühesten Zeugnisse, was es bedeutet, Christ und Christin zu sein.
Vor allem, was uns religiös erscheinen würde, war das eine unerhörte Freiheit. Freiheit im Denken, mit den Wertvorstellungen, Freiheit im Zusammenleben, mit den gesellschaftlichen und persönlichen Rollen. Freiheit im Umgang mit dem Göttlichen, mit dem Schicksal und der Zukunft.
Ein langer Abschnitt des Briefes über mehrere Kapitel kreist um die Freiheit. Die Devise lautet: „Alles ist erlaubt, aber nicht alles ist nützlich.“ Wahrscheinlich war der erste Satzteil die Parole der besonders Begeisterten, der ganz charismatischen Avantgarde in Korinth. Sie haben die Predigt des Paulus besonders gut verstanden und fadengerade umgesetzt. «Alles ist erlaubt.» Wir vermuten, dass sie sich an ihren Lehrer Paulus wenden und sich so auf seine Lehre beziehen: „Hast nicht du uns so gelehrt? Nun, wir ziehen die Konsequenzen und einige Hinterwäldler kommen nicht mit.“
Ihnen fügt der Apostel an: „Aber nicht alles ist nützlich.“ Ihr habt zwar recht, aber ihr verabsolutiert euer Recht.
Konkret ging es wohl um zwei Streitpunkte. Sie betrafen Fragen des Essens und damit Fragen der Tischgemeinschaft.
Zum einen wurde das teure rote Rind- und Lammfleisch in der damaligen Welt im Rahmen einer rituellen Schlachtung hergestellt und in immer in den Zusammenhang mit den Göttern gebracht.
Die begeisterten Freien quittierten diese Vorsicht mit einem starken Argument: Alles ist erlaubt, denn wir wissen: Es gibt keine Götter, es sind Dämonen, sie haben ja gar keine Bedeutung. Alles ist uns erlaubt.
Paulus stimmt dem zu, gibt aber zu bedenken: Die schwachen Zögerer könnten es missverstehen, als wäre der Glaube an diese alten Götter doch auch noch möglich. Als wäre es vielleicht keine schlechte Versicherung, sich diese alten Götter doch irgendwie gewogen zu halten. «Nützt nüüt, so schadts nüüt.»
Darum sei es besser, gar kein Fleisch zu essen und niemanden in Versuchung zu bringen.
Zum andern feierten Freundeskreise ihre Symposien mit Wein und Musik. Je nach Freundeskreis gehörte man zu dieser oder jener philosophischen Schule oder Richtung.
Wer mit den einen feierte, gehörte zu ihrer Glaubensgemeinschaft. Wer an den Abendmahlen der anderen Gottheiten teilnahm, geriet in den Verdacht, auch ihre Werte und ihren Glauben zu teilen.
Die begeisterten Freien quittierten diese Vorsicht mit dem gleichen starken Argument: Alles ist erlaubt, denn wir wissen: Es gibt keine Götter, es sind Dämonen, sie haben ja gar keine Bedeutung. Alles ist uns erlaubt.
Paulus lehnt diesmal ab. Am Kult, am Zutrinken und Zuprosten kannst du nicht teilnehmen, ohne Gott zu verhöhnen.
Die Fragen, die er aufnimmt, sind zeitlos: Was ist Freiheit? Was ist das Mass des Lebens, wenn die Schranken gefallen sind? Doch für Paulus ist Freiheit kein freies Fluten, kein Strömen ohne Richtung. Sie hat ihr Ziel im Anderen, im Blick des Nächsten, im Aufbau der Gemeinschaft.
Paulus fordert von den Starken nichts weniger als den freiwilligen Rechtsverzicht. Ihr habt das Recht auf eure Freiheit – aber ihr sollt es nicht gebrauchen, denn es bringt andere in Gefahr.
Paulus, der Apostel des Herrn, tritt als Bote der göttlichen Wahrheit auf, nicht aus eigener Kraft, sondern gestärkt durch die Gnade, die ihm in Christus geschenkt wurde. Er sieht die Spaltungen in der Gemeinde, die Streitigkeiten, den Hochmut, die Unzucht - und doch sind dies nicht bloss äussere Übel, sondern die inneren Wunden der Seele, die vom rechten Weg abgekommen ist. Die Gemeinde in Korinth ist wie ein Leib, der sich selbst zerschneidet, der sich von der Liebe entfernt und in die Selbstsucht zurückfällt. Paulus ruft sie auf, zur Einheit zurückzukehren, denn nur in der Einheit des Leibes Christi finden wir unser wahres Heil.
Und Freiheit ist auch das Grundwort unseres Staates, unseres Gemeinwesens.
Zwischenspiel „Alles ist erlaubt“
JL: Freiheit ist auch das Grundwort unseres Staates, unseres Gemeinwesens.
„Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern das, was dem andern dient.“ Die Verse 23 und 24 im 10. Kapitel von Paulus 1. Brief an die Korinther passen bestens zur Kritik, welche die Autoren der neuen Bundesverfassung von 1874 an der Gründungsverfassung von 1848 äusserten. Das will ich im Folgenden aufzeigen – im vollen Bewusstsein, dass das Verständnis von individueller Freiheit und sozialer Verbindlichkeit im 19. Jahrhundert ein anderes ist, als es im 1. Jahrhundert war.
„Alles ist erlaubt“.
Das Positiv-Freiheitliche, das in diesem Grundsatz liegt, hatte in der Gründungs-BV von 1848 illiberale Einschränkungen. Die bedenklichste war die Verweigerung politischer Rechte sowie der Niederlassungs- und Religionsfreiheit für die Juden. Der Bundesstaat von 1848 galt nur für protestantische und katholische Männer. 1863 forderte die linksfreisinnige „Helvetia“ in einer Petition deren völlige Gleichberechtigung. In einer Teilrevision im Jahre 1866 wurde den Juden zwar die politische Gleichberechtigung sowie das Niederlassungsrecht gewährt. Da aber die Kultus- und Glaubensfreiheit für Juden keine Mehrheit fand, wurde sie zu einer Schlüsselfrage der folgenden Totalrevision der Bundesverfassung. Der Bundesstaat von 1848 war ein „christlicher“. Er wurde erst 1874 dank der Judenemanzipation zu einem säkularen.
Auch Christen und Christinnen litten nach 1848 und bis 1874 unter Einschränkungen, die damaligem Freiheits-Verständnis widersprachen. Infolge der Industrialisierung zogen viele Menschen in andere Kantone und Gemeinden. Aber als Ortsfremde hatten sie in diesen keine politische Rechte. Und bei Verarmung, Verschuldung oder sittlichem Fehlverhalten konnten sie ausgeschafft werden. Waren sie auch konfessionell „fremde Fötzel“, hatten sie mit allerlei Diskriminierungen zu rechnen. Insbesondere in den Schulen. Zu den nachhaltigsten Errungenschaften der Bundesverfassung von 1874 gehörte die Gleichberechtigung der Neuzuzüger in den neuen Einwohnergemeinden und der Schulartikel. Dieser machte einen unentgeltlichen Primarunterricht obligatorisch, der „ohne Beeinträchtigung der Glaubens- und Gewissensfreiheit“ durchgeführt werden musste. Neu galt ab 1874 die Religionsfreiheit bereits ab 16 Jahren. Das Recht auf Ehe und die Schaffung der Zivilehe hob all die Ehehindernisse auf, legalisierte die Scheidung und legitimierte vorehelich geborene Kinder.
Aber nicht alles dient zum Guten / Aber nicht alles baut auf
Die Bundesverfassung von 1848 erlaubte der Wirtschaft praktisch alles. Im Schatten neuer Reichtümer breitete sich soziales Elend aus. Die Arbeitenden schufteten über 70 Stunden pro Woche. Die Kinderarbeit nahm zu. In den Fabriken gab es viele Unfälle und Erkrankungen, aber keine Versicherungen.
Auch die Umwelt, insbesondere die Gewässer und Wälder, wurde geschädigt. Der private Eisenbahnbau führte zu ruinösen Doppelgleisigkeiten. Damit die wirtschaftliche Dynamik zum Guten diente, wurden in die Bundesverfassung von 1874 – als erste weltweit – Fabrik- und Umwelt-Artikel – aufgenommen. Diese schränkten das liberale Dogma der Privatautonomie: das Alles ist erlaubt stark ein.
Wie aufbauend solche sinnvollen Verbote wirken, zeigt eindrücklich das Verbot der Kinderarbeit. Letztlich brachte die alles andere als billige Schulbildung der Wirtschaft viel mehr als billige Kinderarbeit.
Weiter schränkte die Bundesverfassung von 1874 den Eisenbahn-Wildwuchs ein, indem sie das Eisenbahnwesen zur Bundessache erklärte. Auf diesem Aber baute später die SBB auf.
Diese Fortschritte waren verbunden mit einer direktdemokratischen Ermächtigung der Bürger dank des neuen Referendumsrechts und einem Sturz des übermächtig gewordenen Systems Escher.
Dass der Gedanke, dass nicht alles, was erlaubt ist, dem Guten dient, gilt auch für das Volk. Als das Männervolk noch 1959, als praktisch ganz Europa das Frauenstimmrecht hatte, den Schweizer Frauen die Partizipation verweigerte, setzte es seine Freiheit weder im guten noch im aufbauenden Sinne ein. Hier eine Nebenbemerkung: Die gleichen Kantone, die 1848 in der Tagsatzung erfolglos für die Judenemanzipation kämpften, waren 1959 die einzigen, die für die Frauenemanzipation stimmten: Genf, Waadt, Neuenburg.
Niemand suche das Seine, sondern das, was dem andern dient
Als die meisten Ortsbürger dieses Landes mit der Bundesverfassung von 1874 für die politische Gleichberechtigung der Neuzuzüger, fast die Hälfte der Bevölkerung stimmten, machten sie genau das, was Paulus den Korinthern im Vers 24 geraten hatte. Und später erfuhren die Ortsbürger, dass die Rücksichtnahme auf den anderen, das Teilen der kommunalen und kantonalen Macht mit den Neuzugezogenen die ganze Gemeinde stärkte und damit auch ihnen zu Gute kam.
RD: Du hast uns eindrücklich aus der Geschichte unseres Bundesstaates, unseres Gemeinwesens erzählt. Die Geschichte des Neunzehnten Jahrhunderts ist eine Geschichte der Freiheit, der Befreiung. Und sie nimmt damit auf, was Paulus die Korinther und uns gelehrt hat. Das Neunzehnte Jahrhundert zeigt auch, dass Freiheit und Gemeinwohl nicht von selbst zusammenpassen. Wie machten unsere Vorfahren von ihrer Freiheit Gebrauch? Sie richteten die Wirtschaftsfreiheit aus an den Gütern des Allgemeinwohls, dem Wald, den Schwachen in der Wirtschaft, den Nicht-Heimatberechtigten, den Kindern, den Minderheiten, der Religionsfreiheit. «Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten.» Du hast zu Welthandel, Rohstoffhandel, Friedensordnung, Demokratie und Internet viel nachgedacht. Welche Freiheit brauchen wir heute? Für unsere Zukunft? Wie siehst du es?
JL: Die Freiheit der Wirtschaft wider die Freiheit der Ukraine
Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Dafür gibt es ein dramatisches Beispiel: Putins Krieg gegen die Ukraine und die Mitverantwortung der Schweiz.
Im Rahmen der Wirtschafts-Freiheit hat unser Land Putins Kriegskasse mitgefüllt und Kriegsmaschine mitausgerüstet. Nun bedroht der Krieg die Freiheit der Ukraine wie auch die vieler Russinnen und Russen. Hautnah habe ich erlebt, wie Putin seit dem Jahr 2002, als er im Zuger Casino einen Friedenspreis erhielt, Stadt und Kanton Zug zu einem Hauptstandort russischer Konzerne, Firmen, Banken sowie Oligarchen machte. Und auch nichtrussische Rohstoffmultis haben mitgeholfen, Putins Kriegskasse zu füllen. So hat der grösste von allen Russland, dessen Staatskasse wegen den Krim-Sanktionen der Bankrott drohte, im Dezember 2016 mit 11 Milliarden aus der Klemme geholfen. Der Glencore-CEO erhielt dafür von Putin persönlich den Friedenspreis der russischen Föderation.
Im Rahmen der Anwalts-Freiheit wurde das Geldwäschereigesetz derart durchlöchert, dass von den 150 Milliarden Oligarchen-Geldern in der Schweiz bis heute weniger als 10 Milliarden gefunden wurden.
Nach der Annexion der Krim 2014 hat der Bundesrat – unter Hinweis auf die Unternehmens-Freiheit – das Seco gezwungen, Russland weiterhin jene Spezialmaschinen zu liefern, mit denen jene Raketen hergestellt werden, die heute Kiew, Odessa und andere Städte zerstören. Die Begründung im März 2016 lautete: „Keine ideologische Prüfkriterien“.
Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Vor dieser Frage steht die Schweiz jetzt beim Freihandelsabkommen mit China. Paulus würde sich kaum grundsätzlich dagegenstellen. Aber auch hier würde er sein „Aber“ anbringen: Was bedeutet es für die Uiguren, den Tibet, die Andersdenkenden oder die Arbeitenden, denen die gewerkschaftlichen Rechte verweigert werden?
RD: Als wir das Thema vorbereitet haben, war dir der zweite Satz sehr wichtig: «Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern das was dem andern dient.»
JL: Universalität und Neutralität für Gerechtigkeit und Frieden
Eine der grössten Gefahren ist das Auseinanderbrechen der Welt, das Auseinanderfallen der Menschheit. Damit ist der Universalismus besonders gefordert. Da wir heute den „Eidgenössischen Dank- Buss- und Bettag“ haben, beschränke ich mich auf das, was die Schweiz tun kann und muss.
Zwei Hauptgründe für die globalen Zerfallserscheinungen sind eine ungerechte Weltwirtschaft und eine schwache Friedensordnung. Was das Wirtschaftliche betrifft, ist die Schweiz als Rohstoffhandelszentrum ein wichtiger Teil des Problems. Es ist ungerecht, wenn die Schweiz vom kongolesischen Kupfer oder von der kolumbianischen Kohle mehr profitiert als die kongolesische oder die kolumbianische Bevölkerung. Die vom Volk angenommene Konzernverantwortungsinitiative gab hier eine wichtige und richtige Antwort.
Die Schwäche der Friedensordnung hat wesentlich zu tun mit der Schwäche der UNO. Die UNO ist trotz all ihrer Defizite universalistisch, weil ihr alle angehören können. Die Schweiz ist herausgefordert, ihre Neutralität zugunsten der UNO einzusetzen, weil Neutralität und Universalität kompatibel sind. Allerdings muss es eine Neutralität im Sinne des Apostels Paulus sein: „Niemand suche das Seine, sondern das, was dem andern dient.“ Also eine Neutralität, die nicht bloss den eigenen Vorteil sucht, sondern eine, die sich in den Dienst der Menschheit und des Weltfriedens stellt.
Übrigens ist ein anderes Schlüsselthema in Paulus 1. Korintherbrief das griechische „Pas“ oder „Pan“, was auf Deutsch das Ganze, das Umfassende und auf lateinisch „universalis“ heisst.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Gedanken in Jesus Christus. Amen.
und dem Herrn Jesus Christus!
Liebe Gemeinde
Der Erste Korintherbrief wurde von Paulus an die Gemeinde in Korinth geschrieben, eine Gemeinde, die er selbst gegründet hatte. Korinth war eine bedeutende Hafenstadt im Römischen Reich, bekannt für ihren Reichtum, ihre kulturelle Vielfalt, aber auch für moralische Dekadenz.
Die Gemeinde, jung und zerbrechlich, hin und her gerissen zwischen Hochmut und Verwirrung, ringt mit sich selbst.
Paulus, der einst diese Gemeinde mit einem flammenden Herzen gründete, schaut nun von fern auf sie, wie ein Vater auf ein Kind, das seine eigenen Wege sucht und sich doch verstrickt. Er ist nicht nur Mahner, sondern auch Tröster, nicht nur Lehrer, sondern Bruder, der mitgeht in der Unsicherheit des Anderen.
Die Gemeinde war von zahlreichen internen Spannungen geprägt, darunter Streitigkeiten, Spaltungen und moralische Verfehlungen. Paulus reagiert auf diese Missstände und gibt der Gemeinde Anweisungen, wie sie ihr Leben und ihre Gemeinschaft auf das Evangelium ausrichten kann.
Er spricht verschiedene Themen an, wie Streitigkeiten zwischen den Gemeindemitgliedern, sexuelle Unmoral, die Bedeutung der Ehe, die Rolle von Frauen im Gottesdienst und den richtigen Umgang mit den Gaben des Heiligen Geistes.
Die Gemeinde in Korinth war aber vor allem Problematischen und Unmoralischen eine charismatische Gemeinschaft. Eine Versammlung begeisterter Menschen. Und der Brief ist eines der frühesten Zeugnisse, was es bedeutet, Christ und Christin zu sein.
Vor allem, was uns religiös erscheinen würde, war das eine unerhörte Freiheit. Freiheit im Denken, mit den Wertvorstellungen, Freiheit im Zusammenleben, mit den gesellschaftlichen und persönlichen Rollen. Freiheit im Umgang mit dem Göttlichen, mit dem Schicksal und der Zukunft.
Ein langer Abschnitt des Briefes über mehrere Kapitel kreist um die Freiheit. Die Devise lautet: „Alles ist erlaubt, aber nicht alles ist nützlich.“ Wahrscheinlich war der erste Satzteil die Parole der besonders Begeisterten, der ganz charismatischen Avantgarde in Korinth. Sie haben die Predigt des Paulus besonders gut verstanden und fadengerade umgesetzt. «Alles ist erlaubt.» Wir vermuten, dass sie sich an ihren Lehrer Paulus wenden und sich so auf seine Lehre beziehen: „Hast nicht du uns so gelehrt? Nun, wir ziehen die Konsequenzen und einige Hinterwäldler kommen nicht mit.“
Ihnen fügt der Apostel an: „Aber nicht alles ist nützlich.“ Ihr habt zwar recht, aber ihr verabsolutiert euer Recht.
Konkret ging es wohl um zwei Streitpunkte. Sie betrafen Fragen des Essens und damit Fragen der Tischgemeinschaft.
Zum einen wurde das teure rote Rind- und Lammfleisch in der damaligen Welt im Rahmen einer rituellen Schlachtung hergestellt und in immer in den Zusammenhang mit den Göttern gebracht.
Die begeisterten Freien quittierten diese Vorsicht mit einem starken Argument: Alles ist erlaubt, denn wir wissen: Es gibt keine Götter, es sind Dämonen, sie haben ja gar keine Bedeutung. Alles ist uns erlaubt.
Paulus stimmt dem zu, gibt aber zu bedenken: Die schwachen Zögerer könnten es missverstehen, als wäre der Glaube an diese alten Götter doch auch noch möglich. Als wäre es vielleicht keine schlechte Versicherung, sich diese alten Götter doch irgendwie gewogen zu halten. «Nützt nüüt, so schadts nüüt.»
Darum sei es besser, gar kein Fleisch zu essen und niemanden in Versuchung zu bringen.
Zum andern feierten Freundeskreise ihre Symposien mit Wein und Musik. Je nach Freundeskreis gehörte man zu dieser oder jener philosophischen Schule oder Richtung.
Wer mit den einen feierte, gehörte zu ihrer Glaubensgemeinschaft. Wer an den Abendmahlen der anderen Gottheiten teilnahm, geriet in den Verdacht, auch ihre Werte und ihren Glauben zu teilen.
Die begeisterten Freien quittierten diese Vorsicht mit dem gleichen starken Argument: Alles ist erlaubt, denn wir wissen: Es gibt keine Götter, es sind Dämonen, sie haben ja gar keine Bedeutung. Alles ist uns erlaubt.
Paulus lehnt diesmal ab. Am Kult, am Zutrinken und Zuprosten kannst du nicht teilnehmen, ohne Gott zu verhöhnen.
Die Fragen, die er aufnimmt, sind zeitlos: Was ist Freiheit? Was ist das Mass des Lebens, wenn die Schranken gefallen sind? Doch für Paulus ist Freiheit kein freies Fluten, kein Strömen ohne Richtung. Sie hat ihr Ziel im Anderen, im Blick des Nächsten, im Aufbau der Gemeinschaft.
Paulus fordert von den Starken nichts weniger als den freiwilligen Rechtsverzicht. Ihr habt das Recht auf eure Freiheit – aber ihr sollt es nicht gebrauchen, denn es bringt andere in Gefahr.
Paulus, der Apostel des Herrn, tritt als Bote der göttlichen Wahrheit auf, nicht aus eigener Kraft, sondern gestärkt durch die Gnade, die ihm in Christus geschenkt wurde. Er sieht die Spaltungen in der Gemeinde, die Streitigkeiten, den Hochmut, die Unzucht - und doch sind dies nicht bloss äussere Übel, sondern die inneren Wunden der Seele, die vom rechten Weg abgekommen ist. Die Gemeinde in Korinth ist wie ein Leib, der sich selbst zerschneidet, der sich von der Liebe entfernt und in die Selbstsucht zurückfällt. Paulus ruft sie auf, zur Einheit zurückzukehren, denn nur in der Einheit des Leibes Christi finden wir unser wahres Heil.
Und Freiheit ist auch das Grundwort unseres Staates, unseres Gemeinwesens.
Zwischenspiel „Alles ist erlaubt“
JL: Freiheit ist auch das Grundwort unseres Staates, unseres Gemeinwesens.
„Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern das, was dem andern dient.“ Die Verse 23 und 24 im 10. Kapitel von Paulus 1. Brief an die Korinther passen bestens zur Kritik, welche die Autoren der neuen Bundesverfassung von 1874 an der Gründungsverfassung von 1848 äusserten. Das will ich im Folgenden aufzeigen – im vollen Bewusstsein, dass das Verständnis von individueller Freiheit und sozialer Verbindlichkeit im 19. Jahrhundert ein anderes ist, als es im 1. Jahrhundert war.
„Alles ist erlaubt“.
Das Positiv-Freiheitliche, das in diesem Grundsatz liegt, hatte in der Gründungs-BV von 1848 illiberale Einschränkungen. Die bedenklichste war die Verweigerung politischer Rechte sowie der Niederlassungs- und Religionsfreiheit für die Juden. Der Bundesstaat von 1848 galt nur für protestantische und katholische Männer. 1863 forderte die linksfreisinnige „Helvetia“ in einer Petition deren völlige Gleichberechtigung. In einer Teilrevision im Jahre 1866 wurde den Juden zwar die politische Gleichberechtigung sowie das Niederlassungsrecht gewährt. Da aber die Kultus- und Glaubensfreiheit für Juden keine Mehrheit fand, wurde sie zu einer Schlüsselfrage der folgenden Totalrevision der Bundesverfassung. Der Bundesstaat von 1848 war ein „christlicher“. Er wurde erst 1874 dank der Judenemanzipation zu einem säkularen.
Auch Christen und Christinnen litten nach 1848 und bis 1874 unter Einschränkungen, die damaligem Freiheits-Verständnis widersprachen. Infolge der Industrialisierung zogen viele Menschen in andere Kantone und Gemeinden. Aber als Ortsfremde hatten sie in diesen keine politische Rechte. Und bei Verarmung, Verschuldung oder sittlichem Fehlverhalten konnten sie ausgeschafft werden. Waren sie auch konfessionell „fremde Fötzel“, hatten sie mit allerlei Diskriminierungen zu rechnen. Insbesondere in den Schulen. Zu den nachhaltigsten Errungenschaften der Bundesverfassung von 1874 gehörte die Gleichberechtigung der Neuzuzüger in den neuen Einwohnergemeinden und der Schulartikel. Dieser machte einen unentgeltlichen Primarunterricht obligatorisch, der „ohne Beeinträchtigung der Glaubens- und Gewissensfreiheit“ durchgeführt werden musste. Neu galt ab 1874 die Religionsfreiheit bereits ab 16 Jahren. Das Recht auf Ehe und die Schaffung der Zivilehe hob all die Ehehindernisse auf, legalisierte die Scheidung und legitimierte vorehelich geborene Kinder.
Aber nicht alles dient zum Guten / Aber nicht alles baut auf
Die Bundesverfassung von 1848 erlaubte der Wirtschaft praktisch alles. Im Schatten neuer Reichtümer breitete sich soziales Elend aus. Die Arbeitenden schufteten über 70 Stunden pro Woche. Die Kinderarbeit nahm zu. In den Fabriken gab es viele Unfälle und Erkrankungen, aber keine Versicherungen.
Auch die Umwelt, insbesondere die Gewässer und Wälder, wurde geschädigt. Der private Eisenbahnbau führte zu ruinösen Doppelgleisigkeiten. Damit die wirtschaftliche Dynamik zum Guten diente, wurden in die Bundesverfassung von 1874 – als erste weltweit – Fabrik- und Umwelt-Artikel – aufgenommen. Diese schränkten das liberale Dogma der Privatautonomie: das Alles ist erlaubt stark ein.
Wie aufbauend solche sinnvollen Verbote wirken, zeigt eindrücklich das Verbot der Kinderarbeit. Letztlich brachte die alles andere als billige Schulbildung der Wirtschaft viel mehr als billige Kinderarbeit.
Weiter schränkte die Bundesverfassung von 1874 den Eisenbahn-Wildwuchs ein, indem sie das Eisenbahnwesen zur Bundessache erklärte. Auf diesem Aber baute später die SBB auf.
Diese Fortschritte waren verbunden mit einer direktdemokratischen Ermächtigung der Bürger dank des neuen Referendumsrechts und einem Sturz des übermächtig gewordenen Systems Escher.
Dass der Gedanke, dass nicht alles, was erlaubt ist, dem Guten dient, gilt auch für das Volk. Als das Männervolk noch 1959, als praktisch ganz Europa das Frauenstimmrecht hatte, den Schweizer Frauen die Partizipation verweigerte, setzte es seine Freiheit weder im guten noch im aufbauenden Sinne ein. Hier eine Nebenbemerkung: Die gleichen Kantone, die 1848 in der Tagsatzung erfolglos für die Judenemanzipation kämpften, waren 1959 die einzigen, die für die Frauenemanzipation stimmten: Genf, Waadt, Neuenburg.
Niemand suche das Seine, sondern das, was dem andern dient
Als die meisten Ortsbürger dieses Landes mit der Bundesverfassung von 1874 für die politische Gleichberechtigung der Neuzuzüger, fast die Hälfte der Bevölkerung stimmten, machten sie genau das, was Paulus den Korinthern im Vers 24 geraten hatte. Und später erfuhren die Ortsbürger, dass die Rücksichtnahme auf den anderen, das Teilen der kommunalen und kantonalen Macht mit den Neuzugezogenen die ganze Gemeinde stärkte und damit auch ihnen zu Gute kam.
RD: Du hast uns eindrücklich aus der Geschichte unseres Bundesstaates, unseres Gemeinwesens erzählt. Die Geschichte des Neunzehnten Jahrhunderts ist eine Geschichte der Freiheit, der Befreiung. Und sie nimmt damit auf, was Paulus die Korinther und uns gelehrt hat. Das Neunzehnte Jahrhundert zeigt auch, dass Freiheit und Gemeinwohl nicht von selbst zusammenpassen. Wie machten unsere Vorfahren von ihrer Freiheit Gebrauch? Sie richteten die Wirtschaftsfreiheit aus an den Gütern des Allgemeinwohls, dem Wald, den Schwachen in der Wirtschaft, den Nicht-Heimatberechtigten, den Kindern, den Minderheiten, der Religionsfreiheit. «Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten.» Du hast zu Welthandel, Rohstoffhandel, Friedensordnung, Demokratie und Internet viel nachgedacht. Welche Freiheit brauchen wir heute? Für unsere Zukunft? Wie siehst du es?
JL: Die Freiheit der Wirtschaft wider die Freiheit der Ukraine
Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Dafür gibt es ein dramatisches Beispiel: Putins Krieg gegen die Ukraine und die Mitverantwortung der Schweiz.
Im Rahmen der Wirtschafts-Freiheit hat unser Land Putins Kriegskasse mitgefüllt und Kriegsmaschine mitausgerüstet. Nun bedroht der Krieg die Freiheit der Ukraine wie auch die vieler Russinnen und Russen. Hautnah habe ich erlebt, wie Putin seit dem Jahr 2002, als er im Zuger Casino einen Friedenspreis erhielt, Stadt und Kanton Zug zu einem Hauptstandort russischer Konzerne, Firmen, Banken sowie Oligarchen machte. Und auch nichtrussische Rohstoffmultis haben mitgeholfen, Putins Kriegskasse zu füllen. So hat der grösste von allen Russland, dessen Staatskasse wegen den Krim-Sanktionen der Bankrott drohte, im Dezember 2016 mit 11 Milliarden aus der Klemme geholfen. Der Glencore-CEO erhielt dafür von Putin persönlich den Friedenspreis der russischen Föderation.
Im Rahmen der Anwalts-Freiheit wurde das Geldwäschereigesetz derart durchlöchert, dass von den 150 Milliarden Oligarchen-Geldern in der Schweiz bis heute weniger als 10 Milliarden gefunden wurden.
Nach der Annexion der Krim 2014 hat der Bundesrat – unter Hinweis auf die Unternehmens-Freiheit – das Seco gezwungen, Russland weiterhin jene Spezialmaschinen zu liefern, mit denen jene Raketen hergestellt werden, die heute Kiew, Odessa und andere Städte zerstören. Die Begründung im März 2016 lautete: „Keine ideologische Prüfkriterien“.
Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Vor dieser Frage steht die Schweiz jetzt beim Freihandelsabkommen mit China. Paulus würde sich kaum grundsätzlich dagegenstellen. Aber auch hier würde er sein „Aber“ anbringen: Was bedeutet es für die Uiguren, den Tibet, die Andersdenkenden oder die Arbeitenden, denen die gewerkschaftlichen Rechte verweigert werden?
RD: Als wir das Thema vorbereitet haben, war dir der zweite Satz sehr wichtig: «Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern das was dem andern dient.»
JL: Universalität und Neutralität für Gerechtigkeit und Frieden
Eine der grössten Gefahren ist das Auseinanderbrechen der Welt, das Auseinanderfallen der Menschheit. Damit ist der Universalismus besonders gefordert. Da wir heute den „Eidgenössischen Dank- Buss- und Bettag“ haben, beschränke ich mich auf das, was die Schweiz tun kann und muss.
Zwei Hauptgründe für die globalen Zerfallserscheinungen sind eine ungerechte Weltwirtschaft und eine schwache Friedensordnung. Was das Wirtschaftliche betrifft, ist die Schweiz als Rohstoffhandelszentrum ein wichtiger Teil des Problems. Es ist ungerecht, wenn die Schweiz vom kongolesischen Kupfer oder von der kolumbianischen Kohle mehr profitiert als die kongolesische oder die kolumbianische Bevölkerung. Die vom Volk angenommene Konzernverantwortungsinitiative gab hier eine wichtige und richtige Antwort.
Die Schwäche der Friedensordnung hat wesentlich zu tun mit der Schwäche der UNO. Die UNO ist trotz all ihrer Defizite universalistisch, weil ihr alle angehören können. Die Schweiz ist herausgefordert, ihre Neutralität zugunsten der UNO einzusetzen, weil Neutralität und Universalität kompatibel sind. Allerdings muss es eine Neutralität im Sinne des Apostels Paulus sein: „Niemand suche das Seine, sondern das, was dem andern dient.“ Also eine Neutralität, die nicht bloss den eigenen Vorteil sucht, sondern eine, die sich in den Dienst der Menschheit und des Weltfriedens stellt.
Übrigens ist ein anderes Schlüsselthema in Paulus 1. Korintherbrief das griechische „Pas“ oder „Pan“, was auf Deutsch das Ganze, das Umfassende und auf lateinisch „universalis“ heisst.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Gedanken in Jesus Christus. Amen.