"Gefährliche Freiheit." Wort auf den Weg

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In der Predigt vom 8. September geht es um einen geistlichen Felsen und eine gefährliche Freiheit, die Christen mit Juden verbindet. Das 10. Kapitel des ersten Korintherbriefes beschäftigt uns mit der Frage nach dem Beispiel und Verhältnis der jüdischen und heidnischen Religionstraditionen. „Religion und Glaube“ haben eine heisse Beziehung zueinander.
Für die einen sind sie Synonyme, für die anderen Gegensätze.
Roland Diethelm,
„Ihr sollt aber wissen, liebe Brüder und Schwestern, dass unsere Väter alle unter der Wolke waren, alle durch das Meer hindurchzogen und alle in der Wolke und im Meer auf Mose getauft wurden. Alle assen dieselbe geistliche Speise, und alle tranken denselben geistlichen Trank; denn sie tranken aus einem geistlichen Felsen, der mit ihnen zog; der Fels aber war Christus.
Doch an den meisten von ihnen hatte Gott kein Wohlgefallen: Sie wurden in der Wüste niedergestreckt. 
So sind sie für uns ein Mahnmal geworden, dass wir nicht das Böse begehren, wie jene es begehrt haben. 

Werdet nicht zu Dienern der nichtigen Götter wie einige von ihnen, von denen es heisst: Das Volk liess sich nieder zum Essen und Trinken, und sie erhoben sich zum Tanz. 
Lasst uns nicht Abgötterei treiben, wie manche von ihnen Abgötterei getrieben haben und dann umgekommen sind, dreiundzwanzigtausend an einem Tag. 
Lasst uns Christus nicht versuchen, wie einige von ihnen es getan haben und dann von den Schlangen getötet wurden. 
Und murrt nicht, wie einige von ihnen gemurrt haben und dann durch den Verderber umgebracht wurden. 
Solches ist jenen auf beispielhafte Weise widerfahren; aufgeschrieben wurde es, um uns den Sinn zurechtzurücken, uns, auf die das Ende der Zeiten gekommen ist. 
Darum: Wer zu stehen meint, sehe zu, dass er nicht falle! 

Noch ist keine Versuchung über euch gekommen, die nicht menschlich wäre. Gott aber ist treu: Er wird nicht zulassen, dass ihr über eure Kräfte versucht werdet, sondern mit der Versuchung auch den Ausweg schaffen, dass ihr die Kraft habt, sie zu bestehen.
Darum, meine Geliebten, flieht die Verehrung der nichtigen Götter!“ (1 Kor 10,1-14)


Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater,
und dem Herrn Jesus Christus!

Liebe Gemeinde

Es gibt Geschichten, die uns nicht kaltlassen können. Sie brennen sich in unser Herz. Sie sind Spiegel unseres Lebens. Eine solche Geschichte erzählt Paulus heute. Die Geschichte eines Volkes, das befreit wurde aus der Knechtschaft, das gerettet wurde durch das Meer, begleitet von einer Wolke des göttlichen Schutzes, gespeist mit Manna vom Himmel und getränkt mit Wasser aus dem Felsen in der Wüste. Der Fels, sagt Paulus, das war Christus selbst. Wie reich und voll Vertrauen und Führung ist dieses Bild! Ein Volk, das in der Wüste unterwegs ist, und Gott ist mit ihnen. Und dann: Doch an den meisten von ihnen hatte Gott kein Wohlgefallen, sagt Paulus, „denn sie wurden in der Wüste hingestreckt.“

Das ist eine harte Aussage. Tragisches ist geschehen, etwas das uns verstören muss, denn es stört das Bild des innigen Vertrauens: Ein Volk, das so viel von Gott empfangen hat, endet in der Wüste. Wir stehen vor der Geschichte der gefährdeten Freiheit, der gefährlichen Freiheit. Darunter ist christliche Freiheit nicht zu haben.

1. Exegese: Die alttestamentlichen Schatten
Und haben eine richtige jüdische Predigt gehört. Paulus verweist uns auf die Geschichte des Volkes Israel und streut in seine Mahnung eine ganze Reihe von Anspielungen ein, die seine damaligen Leser ebenso wie uns wachrütteln sollen, wenn man die Tora kennen würde. Auf dem vierzigjährigen Weg durch die Wüste versorgt Gott sein Volk mit allem Lebensnotwendigen – und das Volk fällt immer wieder aus dieser vertrauensvollen Beziehung heraus.

Da ist die Geschichte des goldenen Kalbes: Kaum hat Mose den Berg bestiegen, um das Gesetz zu empfangen, formt das Volk sich einen Gott aus Gold – ein Kalb, ein Stiergott, den es anbeten kann. Wie schnell wird die Sehnsucht nach Sicherheit zum Götzen! Religion, die ursprünglich zur Anbetung des lebendigen Gottes führt, wird pervertiert, wenn der Mensch sich einen Gott nach seinen Wünschen macht. Das Goldene Kalb – das ist nicht nur eine ferne Erzählung, es ist ein Spiegel unserer eigenen Versuchungen. Religion als Selbstbestätigung, als Machtmittel, als Werkzeug zur Absicherung – wie oft bauen auch wir solche Götzen? Der Mensch, so Paulus, ist immer versucht, Gott auf ein Bild zu reduzieren, das er kontrollieren kann. Und darin liegt die Rebellion: Nicht mehr Gott, sondern wir bestimmen, was heilig ist.

Weiter geht Paulus mit der Erinnerung an den Fall Baal Peor, wo das Volk sich in einen lokalen Götzendienst und sexuelle Ausschweifungen stürzt – und als Folge sterben 23.000 Israeliten. Was für eine Zahl! Ein ganzes Volk in der Zerstörung, weil es den falschen Weg ging. Wir Menschen wollen die unmittelbare Erfüllung, den Genuss ohne Grenzen, ohne Rücksicht auf Gott. Auch das ist Rebellion, weil der Mensch sich selbst zum Massstab macht.

Dann erinnert Paulus an die Plage der feurigen Schlangen, die das Volk traf, als es gegen Gott und Mose murrte. Selbst in der Not, in der Bedrängnis, wenn alles drängt, sich auf Gott zu verlassen, erhebt das Volk seine Stimme gegen ihn. Das Murren – das ist die Stimme des inneren Aufstands, der Stimme, die sich auflehnt, die Gott Vorwürfe macht, die nicht mehr vertrauen kann, dass er es gut mit uns meint.

In den älteren Überlieferungen wird vom „Murren des Volkes“ gegen Mose angesichts des Wassermangels in der Wüste erzählt, durchaus begründet in einer realistischen Sicht auf die eigene Situation. Der Wassermangel wird alsbald durch Gottes Hilfe behoben. In den jüngeren priesterschriftlichen und nachpriesterschriftlichen Erzählungen erscheint die Gemeinde der Israeliten als Subjekt eines Aufbegehrens, das sich über Mose hinaus auch gegen Aaron, ja gegen Gott selbst richtet und von diesem als Rebellion mit dem Tode in der Wüste bestraft wird.

Der Glaube der Israeliten zeigt: Wie schnell verliert auch der fromme Mensch, das gottesfürchtige Volk die Spiritualität aus der lebendigen Gottesbeziehung – wie schnell kippt der vertrauensvolle Glaube in eine Religion, zu einem Dienst an nichtigen Göttern, einer Verehrung eines selbstgemachten anstelle des lebendigen Gottes!

Und doch, selbst in diesen Geschichten gibt es eine radikale Gnade. Die eherne Schlange, die Mose aufrichtete, wurde zum Zeichen der Rettung. Wer auf sie schaute, wurde geheilt. Seht, auch in der Rebellion, auch in der Versuchung, auch im Aufstand des Menschen gegen Gott ist Gott bereit, den Weg zur Rettung zu eröffnen. Aber immer bleibt der Mensch an einem Scheideweg: Wird er sich an den lebendigen Gott halten, oder wird er sich wieder den Götzen zuwenden, den goldenen Kälbern, den eigenen Sicherheiten, den falschen Freiheiten?

Wir stehen vor der Geschichte der gefährdeten Freiheit. In Gefahr bringt uns unsere eigene Möglichkeit. Das Begehren nennt es Paulus. Der Lebenshunger. Die Unersättlichkeit. Die Versuchung, es ohne Vertrauen auf Gott zu machen.

2. Freiheit und Verantwortung: Paulus' Weg der Freiheit
Die 40 Jahre in der Wüste sind beides zugleich und ineinander: Idealbild einer religiösen Gemeinschaft – innige vertrauend der Mensch auf seinen Schöpfer, Retter und Erlöser, eins mit und ganz hingegeben an Gott. Und zugleich eine einzige Reihe von Versuchungen, es ohne ihn zu machen, es besser zu wissen, es gegen Gott selbst zu versuchen, der Mensch als Rebell. Prometheus würden ihn die Griechen nennen.

Paulus führt uns in diesen Kapiteln seines Briefes eine Spannung vor Augen, die uns vertraut sein sollte: Es ist die Spannung zwischen Freiheit und Verantwortung.

In den Kapiteln 7 bis 10 geht es Paulus immer wieder um die Frage, wie wir als Christinnen und Christen in der Welt leben sollen. Da ist die Freiheit von den alten Geboten, die uns nicht mehr binden. Essen wir Fleisch, das den Götzen geopfert wurde, oder nicht? Trinken wir Wein, der im heidnischen Tempel dargebracht wurde, oder nicht? Diese Fragen mögen uns heute fremd erscheinen, aber die dahinterliegende Frage ist zutiefst aktuell: Wie leben wir als Menschen, die durch Christus befreit sind? Befreit von Gesetzlichkeit, befreit von äusserlichen Vorschriften?

Paulus sagt: Ja, wir sind frei! Wir sind nicht mehr gebunden an die Rituale und Traditionen, die uns in eine starre Form pressen wollen. Aber – und das ist das grosse Aber – unsere Freiheit ist nicht Selbstzweck. Wir sind gebunden an die Liebe. „Alles ist mir erlaubt“, schreibt Paulus, „aber nicht alles dient zum Guten.“ Freiheit hat eine Richtung, sie ist gebunden an die Liebe zum Nächsten, besonders zum Schwachen. Paulus macht klar: Freiheit, die den anderen übergeht, wird zur Zerstörung. Das Gewissen des anderen – das ist der Ort, an dem unsere Freiheit ihre Grenzen findet. Die Freiheit, die wir in Christus haben, ist eine Freiheit, die in der Verantwortung steht. Und diese Verantwortung bedeutet, dass wir unser Leben nicht allein vor uns selbst leben, sondern immer auch vor Gott und den Menschen.

3. Was hilft uns, die Balance zu halten?
Doch Paulus geht noch weiter: Er sieht, dass selbst die christliche Tradition, so frei sie auch ist, alles andere als unanfällig ist für Missbrauch. Jede Religion, auch der christliche Glaube, trägt in sich das Risiko der Korrumpierbarkeit. Wie schnell kann aus dem lebendigen Glauben eine starre Ideologie werden, eine Religion der Macht, eine Religion der Selbstbestätigung.

Doch hier hat die biblische Tradition, wie Paulus zeigt, einen eingebauten Schutz: Es ist die tiefe mystische Verwurzelung im Wort Gottes, die uns immer wieder zurückruft zu dem Einen, der uns wirklich frei macht. Diese Verwurzelung, dieses beständige Zurückkehren zu Christus, schützt uns davor, die Religion selbst zu vergötzen. Zurückkehren, oder vielmehr: dieses zurückgerufen werden. Hört ihr die Stimme Gottes in eurem Leben? Gerade dann, wenn es nicht so geht, wie ich es mir vorgestellt hatte. Geborgen, geliebt und gesegnet, gehalten, getragen, geführt, erkennen wir Gott. Er begegnet, wenn Schweigen den Schweigenden spürt. In Gott findet sich Geborgenheit. Religion hütet das Wissen darum, dass an uns eine Kraft von dort, aus unserem Jenseits aktiv wurde und jederzeit wieder aktiv werden kann.

Was hilft uns, offen zu bleiben für den lebendigen Gott? Was hilft uns in einer Zeit, in der die Versuchungen so nahe liegen, in der wir – wie das Volk Israel – in der Wüste unterwegs sind, immer auf der Suche nach Wasser, nach Halt, nach Orientierung?

Ich glaube, es ist die Einübung in eine Haltung der Demut und der Unterscheidung.

Demut – weil wir uns immer wieder vor Augen halten müssen, dass wir nicht die Herren des Glaubens sind. Der Mensch neigt dazu, sich zum Massstab zu machen, aber unser Massstab ist Christus. Demut bedeutet, sich selbst zurückzunehmen und zu fragen: Wo baue ich mir Götzen? Wo stelle ich mich selbst an die Stelle Gottes? Diese Frage zu stellen, ist eine geistliche Übung, die uns vor der Rebellion bewahrt.

Und Unterscheidung – das bedeutet, wachsam zu sein für die Zeichen der Zeit. Wir leben in einer Welt, die von Bildern, von Eindrücken, von Meinungen überflutet wird. Doch nicht alles, was glänzt, ist Gold. Nicht jedes vermeintliche Freiheitsversprechen führt uns in die wahre Freiheit. Unterscheidung bedeutet, die Stimme Gottes zu hören, mitten im Lärm der Welt. Und diese Stimme hören wir im Gebet, im Lesen der Heiligen Schrift, in der Gemeinschaft der Gläubigen, in unseren eigenen widerständigen Schicksalen.

Schliesslich – und das ist die vielleicht wichtigste Übung – ist es die Haltung des Dankes. Es ist kein Zufall, dass das Volk Israel immer dann in die Rebellion fiel, wenn es vergass, dankbar zu sein. Dankbarkeit ist die Waffe gegen das Murren. Dankbarkeit schützt uns davor, das, was Gott uns gibt, als selbstverständlich zu nehmen. Es ist der Dank, der uns demütig macht und uns daran erinnert, dass alles, was wir haben, Gnade ist.

Liebe Gemeinde, lasst uns diese Freiheit, die uns Christus geschenkt hat, in Dankbarkeit und Demut leben. Eine Freiheit, die nicht zur Rebellion führt, sondern zur Hingabe. Eine Freiheit, die nicht in der Selbstverwirklichung endet, sondern in der Liebe. Eine Freiheit, die uns nicht zu Herren der Religion macht, sondern zu Dienern des lebendigen Gottes.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Gedanken in Jesus Christus. Amen.