Glocken – Klangvolle Zeugen von Geschichte und Handwerksgenie

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Geograf und Kampanologe Fabian Thürlimann entführt uns in die Welt der Glocken: Von ihrer magischen Rolle in antiken Kulturen über die Christianisierung bis zur filigranen Giesskunst. Ein Porträt voller Überraschungen – denn Glocken sind ein Kulturgut ersten Ranges. Im St. Johann erklingt die grösste Glocke aus dem Mittelalter, die man der Schweiz noch hören kann.
Roland Diethelm,

Wie kamst du zur Glockenkunde?
Glocken sind für mich lebendige Geschichtsbücher. Leider werden sie heute oft auf Lärmdebatten reduziert. Dabei bergen sie einzigartige Geschichten: Im St. Johann in Schaffhausen etwa erklingt ein mittelalterliches Geläut aus dem 15. Jahrhundert – die grosse Glocke ist die grösste Glocke aus dem Mittelalter, die man der Schweiz noch hören kann.
Was macht die Geschichte der Glocke so faszinierend?
Ihre Reise beginnt in Asien: Schon im 12. Jahrhundert v. Chr. schmiedeten Hochkulturen in Indien, Burma und China flache, rechteckige Glocken aus Blech – ganz ohne unseren „Glockenklang“. Diese dienten als Tieramulette oder Ritualobjekte. Später, im 8. Jahrhundert v. Chr., tauchten im armenischen Hochland erste bronzene Glocken auf, die sich über den Orient verbreiteten. In Ägypten fand man sie als Grabbeigaben, oft mit Hieroglyphen verziert. Für die Römer waren sie Statussymbole – je lauter, desto mächtiger der Besitzer. Entscheidend aber war ihre apotropäische Kraft: Der Klang des Erzes sollte Dämonen vertreiben, was sie zu „Götterstimmen“ machte. So sollte das „Wetterläuten“ schwere Unwetter vertreiben.
Wie wurde die Glocke zum christlichen Symbol?
Ironischerweise lehnte das frühe Christentum Glocken zunächst als heidnisch ab. Erst ägyptische Mönche nutzten sie im 4. Jahrhundert als Rufinstrument für Gebete – eine pragmatische Entscheidung. Den Durchbruch brachten iro-schottische Missionare: Sie verbreiteten ab dem 6. Jahrhundert Glocken als mobile Signalinstrumente bei ihrer Christianisierung Europas. Die liturgische Weihe, wie wir sie kennen, entstand im 8. Jahrhundert im Frankenreich. Dabei wird die Glocke mit Wasser, Chrisam und Weihrauch „getauft“.
Was zeichnet die Handwerkstradition des Glockengiessens aus?
Hier verbinden sich Religion, Kunst und Ingenieurskunst. Anfangs schmiedete man Glocken aus Eisenblech – die Gallusglocke in St. Gallen (8./9. Jh.) ist so ein Relikt. Doch bereits ab dem 8. Jahrhundert goss man Bronzeglocken in Bienenkorbform: dünnwandig, mit herbem Klang. Im 12. Jahrhundert revolutionierte die „Zuckerhutglocke“ das Design – schlank, oft hochtönend. Ein Meilenstein war 1497 die Gloriosa im Erfurter Dom, gegossen vom Niederländer Ghert van Wou: Mit 11,5 Tonnen und einem Durchmesser von 2,5 Metern setzte sie Massstäbe in Klang und Verzierung.
Interessant ist der Wandel des Klangideals: Während gotische Glocken durch ihre dickwandige, konische Form tiefe, tragende Töne erzeugten, bevorzugte der Barock andere, oft leichtere Profile mit leicht veränderten Innenharmonien. Heute verwendet man jedoch meist die gotische Rippe.
Kannst du den Gussprozess genauer schildern?
Es ist ein Tanz mit Feuer und Präzision. Zuerst baut man aus Lehmziegeln den Kern – das spätere Innere der Glocke. Mit einer drehbaren Schablone aus Holz rund geformt. Darauf modelliert man die „falsche Glocke“ aus Lehm, die exakt dem späteren Metallkörper entspricht. Nun kommen Wachsornamente und Inschriften an – bei Sakralglocken oft Bibelzitate und Heiligenfiguren oder Stifternamen. Über alles wird der Mantel aus feuerfestem Lehm gestülpt. Beim Brennen schmilzt das Wachs und hinterlässt Hohlräume für die Verzierungen. Nach dem Abkühlen zerschlägt man die „falsche Glocke“, der Mantel wird über den Kern gesetzt und in der Giessgrube versenkt. Der spannendste Moment ist der Guss: Die Bronze (78 % Kupfer, 22 % Zinn) fliesst bei 1150°C in die Form – begleitet von Gebeten, denn ein Fehler bedeutet Monate vergeudeter Arbeit.
Nach dem Erkalten beginnt die Feinarbeit: Die Glocke wird entgratet, Inschriften nachgraviert. Mit Stimmgabeln und Frequenzanalysen prüft man den Ton und die Teiltöne: Unterton, Prime, Terz, Quinte, Oktave und viele mehr. Stimmt der Ton nicht, schleift man innen Metall ab – jeder Millimeter verändert die Frequenz. Eine Meisterglocke wie die Gloriosa erklingt heute noch so rein wie vor 500 Jahren – ein Beweis für die Genauigkeit mittelalterlicher Giesser.
Warum lohnt es sich, Glocken zu bewahren?
Jede alte Glocke ist ein Unikat – zerstörte man sie, wäre ihr Klanggeheimnis für immer verloren. Zudem tragen sie lokale Identität. Solche Klänge verbinden Generationen. Moderne Lärmdebatten vergessen oft: Glocken sind keine Maschinen, sondern lebendige Stimmen der Geschichte und des Glaubens: Glockenläuten ist Verkündigung!
Das Interview führte ROLAND DIETHELM.

KASTEN
Die Glocken läuten täglich zu den Gebetszeiten am Morgen (Laudes), Mittag und Abend (Vesper) und rufen damit zu den Gebeten – gemeinsam in der Kirche oder jeden an seinem Ort. Für jede Gebetszeit gibt es eine bestimmte Glocke.
Sonn- und Feiertage werden mit dem Vollgeläute am Abend ein- und ausgeläutet, ebenso wie die Gottesdienste. Denn nach biblischem Verständnis beginnt der neue Tag immer mit dem Sonnenuntergang.
Neben diesem «kultischen» Geläute kennen wir auch das bürgerliche Läuten – hier in Schaffhausen sind es das Aus- und Einläuten des Neuen Jahres, das Geläute zum Bundesfeiertag am 1. August und die Erinnerung an die Bombardierung am 1. April 1944 um 11 Uhr.