Paulus und die Bundesverfassung

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Der Bundesstaat von 1848 war ein „christlicher“. Er wurde erst 1874 dank der Judenemanzipation zu einem säkularen. Aus Anlass des Jubiläums „150 Jahre Totalrevision der Bundesverfassung“ predigen am Bettag der katholische Historiker Josef Lang und Pfr. Roland Diethelm im Dialog auf der Kanzel von St. Johann.
Roland Diethelm,
„Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern das, was dem andern dient.“ Die Verse 23 und 24 im 10. Kapitel von Paulus’ erstem Brief an die Korinther passen bestens zur Kritik, welche die Autoren der neuen Bundesverfassung von 1874 an der Gründungsverfassung von 1848 äusserten.
Die grösste Schwäche der Bundesverfassung von 1848 war die Verweigerung politischer Rechte sowie der Niederlassungs- und Religionsfreiheit für die Juden. 1863 forderte die linksfreisinnige „Helvetia“ in einer Petition deren völlige Gleichberechtigung. In einer Teilrevision im Jahre 1866 wurde den Juden zwar die politische Gleichberechtigung sowie das Niederlassungsrecht gewährt. Da aber die Kultus- und Glaubensfreiheit für Juden keine Mehrheit fand, wurde sie zu einer Schlüsselfrage der folgenden Totalrevision der Bundesverfassung. Der Bundesstaat von 1848 war ein „christlicher“. Er wurde erst 1874 dank der Judenemanzipation zu einem säkularen.
Auch den christlichen Bürgerinnen und Bürgern wurde 1874 vieles erlaubt, was bisher verhindert werden konnte. Die Religionsfreiheit galt neu bereits ab 16 Jahren. Das Recht auf Ehe und die Schaffung der Zivilehe hob all die kirchlichen Ehehindernisse auf, legalisierte die Scheidung und legitimierte ausserehelich geborene Kinder. Der Schulartikel, der eine Primarschule „ohne Beeinträchtigung der Glaubens- und Gewissensfreiheit“ obligatorisch machte, bedeutete mehr Freiheit für die Andersgläubigen, insbesondere in den konfessionalistisch geprägten konservativen Kantonen. Die ökonomischen und „sittlichen“ Einschränkungen der Niederlassungsfreiheit wurden aufgehoben. Ein besonderer Ausdruck der politischen und ethischen Verbindung von 1874 war die Abschaffung der Todesstrafe.
Auch das „aber“ im Vers 23 kam 1874 zur Geltung, insbesondere gegen die praktisch uneingeschränkte Wirtschaftsfreiheit der 1848er Verfassung. Diese hatte die Industrialisierung und den Eisenbahnbau dynamisiert, gleichzeitig das soziale Elend vergrössert, die Umwelt geschädigt, einen neuen „Geldadel“ geschaffen, teure Doppelspurigkeiten bei den Bahnlinien provoziert. Die Bundesverfassung von 1874 führte zum Verbot der Kinderarbeit, zur Höchstarbeitszeit von elf Stunden, zur Haftung der Fabrikanten bei Tod, Verletzungen oder Krankheit. Wie der Fabrikartikel war auch der Wald-, Wild-, Vogel- und Fisch-Schutz ein europäisches Verfassungsnovum. Die Macht des „Systems Escher“ wurde mit dem neuen Gesetzesreferendum gebrochen. Das Eisenbahnwesen wurde zur Bundessache erklärt.
Und das Bemerkenswerteste an der neuen Bundesverfassung, der damals weltweit fortschrittlichsten, ist völlig vergessen gegangen: 45% der Schweizerbürger waren damals Zugezogene ohne Stimm- und Wahlrecht auf gemeindlicher und meist auch kantonaler Ebene. Die Mehrheit der privilegierten Ortsbürger stimmte der politischen Gleichberechtigung der Niedergelassenen zu – ganz im Sinne von Vers 24. Von einer hohen demokratischen Kultur zeugen zusätzlich der Ja-Anteil von 63 Prozent und die Stimmbeteiligung von 82 Prozent – der Männer.
Was die Frauen betrifft, war die neue wie schon die alte Bundesverfassung noch eindeutiger ausgrenzend als Paulus’ Brief an die Korinther. Übrigens: Die drei welschen Kantone, die schon 1848 erfolglos die Gleichberechtigung der Juden gefordert hatten, waren 1959 die einzigen, die für das Frauenstimmrecht stimmten.
Die Errungenschaften von 1874 wie auch die Schlüsselverse im ersten. Brief an die Korinther haben nichts an Aktualität eingebüsst: Ausbau der Freiheitsrechte, aber auch des Schutzes der Minderheiten, sozial Schwachen sowie der Umwelt, Aufnahme der Zugezogenen in den demokratischen Souverän, Stärkung des Gemeinsinns gegenüber einem überbordenden Egoismus und mächtigen Privatinteressen.
Josef Lang, Historiker und alt Nationalrat