1'175 Jahre Ramsen
Ein Blick in die wechselvolle kirchliche Geschichte des Dorfes und darüber hinaus.
846 nach Christus taucht Ramsen zum ersten Mal unter dem Namen «Rammesheim» in einer Urkunde auf. Darin gab Graf Luitold zu Protokoll, dass er seinen Anteil an der Kirche in Merishausen dem Koster St. Gallen schenkt.
«Acta in villa rammesheim publice.» So steht es in dieser lateinisch geschriebenen Schenkungsurkunde. «Ausgestellt im Dorf Rammesheim, öffentlich.» Ramsen war also der Abfassungsort.
Wohlhabende Pfarrei
Das Steuer-Register des Bistums Konstanz von 1275 zeigt auf, dass Ramsen eine wichtige Verwaltungseinheit war, ein Dekanat. Dieses erstreckte sich von Schaffhausen im Westen bis zur Insel Reichenau im Osten und umfasste auch den Reiat und den Hegau.
Zur Pfarrei Ramsen selbst gehörten nicht nur das Dorf Ramsen und seine Weiler, sondern auch Rielasingen, Arlen und Hemishofen. Sie lieferte die höchsten Abgaben an den Bischof von Konstanz ab, was ihr schliesslich zum Verhängnis wurde.
Einverleibt
Mitte des 14. Jahrhunderts verleibte der Bischof von Konstanz die Pfarrei Ramsen dem Kloster St. Georg ein. Dieses hatte darum gebeten, um mit den zusätzlichen Einnahmen seine Schulden abzahlen zu können.
Durch diese Einverleibung verlor Ramsen seine relative Selbständigkeit als Dekanatsort und geriet in die totale Abhängigkeit des Klosters St. Georg, das nun bestimmte, wer die Pfarrei betreute.
Glaubenserneuerung
Das 16. Jahrhundert war geprägt durch die Reformation. Martin Luther, Huldrych Zwingli und anderen Reformatoren ging es darum, das Evangelium von Jesus Christus, das verdunkelt war, wieder ans Licht zu bringen.
Sie hatten erkannt, dass man sich durch Ablassgelder, gute Werke oder anderes bei Gott nichts erkaufen kann. Vergebung, Frieden, Heil kann man sich nur schenken lassen, indem man darauf vertraut, dass Jesus Christus all dies erwirkte durch seinen Tod und seine Auferstehung.
Viele Menschen wurden angezogen von diesem freimachenden Glauben und wollten sich der Reformationsbewegung anschliessen – auch in Ramsen.
Verzwickte Verhältnisse
Stein am Rhein und seine Schutzmacht Zürich wollten die Reformation in Ramsen einführen. Das österreichische Kaiserhaus wehrte sich als Landesherr dagegen. Mit Hilfe der katholischen Orte der Alten Eidgenossenschaft konnte es sich durchsetzen.
Ramsen blieb eine katholische Pfarrei, obwohl sich die Mehrheit der Bevölkerung zum evangelisch-reformierten Glauben bekannte. Die Reformierten waren rechtlich nicht anerkannt und konnten jederzeit ausgewiesen werden. Sie wurden zur katholischen Kirche gezählt, mussten in die Messe gehen und sich vom katholischen Priester taufen und trauen lassen.
Mitte des 17. Jahrhundert erlaubte ihnen Österreich, ihren Glauben ausserhalb Ramsens auszuüben. Damit waren sie rechtlich geduldet und mussten nicht mehr befürchten, vertrieben zu werden. Innerhalb des Gemeindebannes durften sie sich jedoch weiterhin nicht versammeln und nicht Gottesdienst feiern.
Eine einzige Haushaltung
1770 konnte Zürich dem österreichischen Kaiserhaus die Landesherrschaft über Ramsen abkaufen. Österreich nahm Zürich das Versprechen ab, die katholische Religion als dominierende zu erhalten, den Katholiken freie Religionsausübung zu gewähren und sie gleich zu behandeln wie die Reformierten.
Wie damals üblich musste Ramsen dem neuen Landesherrn Treue versprechen. In dieser Zeremonie forderte Zürichs Vertreter von den Ramsern unter anderem: Liebt einander und gönnt einander Gutes. Schaut eure Gemeinde als eine einzige Haushaltung an, in der jeder dazu verpflichtet ist, den Nutzen des andern zu fördern wie seinen eigenen. Lasst euch als Reformierte und Katholiken nicht dazu hinreissen, einander mit eifersüchtigen und verächtlichen Augen anzuschauen oder gar einander am Feiern eurer Gottesdienste zu hindern. Denkt daran, dass ihr dem gleichen Gott dient und dass es nicht in eurer Macht steht, Herzen zu lenken. Allein der ewige Gott kann Herzen erleuchten und beurteilen.
Taufe und Abendmahl
Erst mehr als 20 Jahre nach dem Wechsel der Landesherrschaft konnten die Reformierten mit dem Bau eines Schul- und Bethauses beginnen. Dafür legten sie viel Geld zusammen und transportierten alle Baumaterialien in Fronarbeit zur Baustelle. Als 1796 Zürcherische Soldaten in Ramsen stationiert waren, um die Grenzen zu schützen, wurde das neuerbaute Bethaus mit einer Garnisonspredigt eingeweiht.
Mit der Eroberung der Alten Eidgenossenschaft durch Napoleon änderten für Ramsen die Herrschaftsverhältnisse erneut: Es kam zum Kanton Schaffhausen.
1809 bewilligte der Schaffhauser Regierungsrat den reformierten Ramsern, öffentlich Gottesdienst zu halten und «durch einen ordinierten Geistlichen alle kirchlichen Verrichtungen ausführen (zu) lassen». Von da an konnten sie in ihrem Bethaus Abendmahl feiern, ihre Kinder taufen und sich kirchlich trauen lassen.
Hunger nach Gottes Wort
Die Reformierten blieben jedoch weiterhin Mitglieder der katholischen Pfarrei und mussten dieser Steuern zahlen. Da dies immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten führte, entschied der Regierungsrat schliesslich, zwei unabhängige Kirchgemeinden zu bilden und die vorhandenen Gebäude, Grundstücke und Finanzen aufzuteilen. Dadurch konnten die reformierten Ramser 1839 ihr Bethaus zur Kirche erweitern und einen Friedhof anlegen.
Auch die Kirchensynode befasste sich mit der Situation in Ramsen. Pfarrvikar Johann Konrad Mägis, der die Evangelisch-Reformierten von Schaffhausen aus betreute, sagte über sie: «Der frühere Druck war dieser Gemeinde wohlthätig, die Entbehrung alles Gottesdienstes hat einen Hunger nach Gottes Wort erweckt; der politische Druck hat grossen Fleiss und Sparsamkeit erzeugt. Die Sehnsucht nach Gottes Wort hat sie zu bedeutenden Opfern bewogen.»
Eigene Kirchgemeinde
Dank ihrem eigenen Einsatz und Dank Unterstützung von aussen brachten die reformierten Ramser genug Geld zusammen, um einen Pfarrer entlöhnen und um ein Pfarrhaus bauen zu können. Beides war nötig, damit sie eine eigene Kirchgemeinde sein konnten.
Die Errichtung von zwei unabhängigen Kirchgemeinden entschärfte die Konflikte zwischen Reformierten und Katholiken. Doch Spannungen gab es noch bis gegen Ende des letzten Jahrtausends. Gott sei Dank entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten ein gutes ökumenisches Miteinander der christlichen Konfessionen.
Roter Faden
In den letzten 1’175 Jahren änderten sich die kirchlichen und politischen Verhältnisse und die konkreten Lebensbedingungen der Menschen immer wieder. Wie ein roter Faden zieht sich aber der Glaube an Jesus Christus durch diese Zeit – unterschiedlich gefärbt, dicker oder dünner, offensichtlicher oder verborgener. Dieser gelebte christliche Glaube in all seinen Ausprägungen machte Ramsen, die Schweiz, Europa zu dem, was sie wurden.
Heute scheint es, dieser rote Faden könnte sich auflösen: Glaube an Jesus Christus, Gottes Wort und kirchgemeindliches Miteinander stehen nicht hoch im Kurs. Doch am christlichen Glauben dran zu bleiben, könnte zu einer grundlegenden Erneuerung führen, die uns hilft, aus der vielfältigen globalen Krise, in der wir stecken, wieder herauszufinden.
Pfr. Urs Wegmüller
846 nach Christus taucht Ramsen zum ersten Mal unter dem Namen «Rammesheim» in einer Urkunde auf. Darin gab Graf Luitold zu Protokoll, dass er seinen Anteil an der Kirche in Merishausen dem Koster St. Gallen schenkt.
«Acta in villa rammesheim publice.» So steht es in dieser lateinisch geschriebenen Schenkungsurkunde. «Ausgestellt im Dorf Rammesheim, öffentlich.» Ramsen war also der Abfassungsort.
Wohlhabende Pfarrei
Das Steuer-Register des Bistums Konstanz von 1275 zeigt auf, dass Ramsen eine wichtige Verwaltungseinheit war, ein Dekanat. Dieses erstreckte sich von Schaffhausen im Westen bis zur Insel Reichenau im Osten und umfasste auch den Reiat und den Hegau.
Zur Pfarrei Ramsen selbst gehörten nicht nur das Dorf Ramsen und seine Weiler, sondern auch Rielasingen, Arlen und Hemishofen. Sie lieferte die höchsten Abgaben an den Bischof von Konstanz ab, was ihr schliesslich zum Verhängnis wurde.
Einverleibt
Mitte des 14. Jahrhunderts verleibte der Bischof von Konstanz die Pfarrei Ramsen dem Kloster St. Georg ein. Dieses hatte darum gebeten, um mit den zusätzlichen Einnahmen seine Schulden abzahlen zu können.
Durch diese Einverleibung verlor Ramsen seine relative Selbständigkeit als Dekanatsort und geriet in die totale Abhängigkeit des Klosters St. Georg, das nun bestimmte, wer die Pfarrei betreute.
Glaubenserneuerung
Das 16. Jahrhundert war geprägt durch die Reformation. Martin Luther, Huldrych Zwingli und anderen Reformatoren ging es darum, das Evangelium von Jesus Christus, das verdunkelt war, wieder ans Licht zu bringen.
Sie hatten erkannt, dass man sich durch Ablassgelder, gute Werke oder anderes bei Gott nichts erkaufen kann. Vergebung, Frieden, Heil kann man sich nur schenken lassen, indem man darauf vertraut, dass Jesus Christus all dies erwirkte durch seinen Tod und seine Auferstehung.
Viele Menschen wurden angezogen von diesem freimachenden Glauben und wollten sich der Reformationsbewegung anschliessen – auch in Ramsen.
Verzwickte Verhältnisse
Stein am Rhein und seine Schutzmacht Zürich wollten die Reformation in Ramsen einführen. Das österreichische Kaiserhaus wehrte sich als Landesherr dagegen. Mit Hilfe der katholischen Orte der Alten Eidgenossenschaft konnte es sich durchsetzen.
Ramsen blieb eine katholische Pfarrei, obwohl sich die Mehrheit der Bevölkerung zum evangelisch-reformierten Glauben bekannte. Die Reformierten waren rechtlich nicht anerkannt und konnten jederzeit ausgewiesen werden. Sie wurden zur katholischen Kirche gezählt, mussten in die Messe gehen und sich vom katholischen Priester taufen und trauen lassen.
Mitte des 17. Jahrhundert erlaubte ihnen Österreich, ihren Glauben ausserhalb Ramsens auszuüben. Damit waren sie rechtlich geduldet und mussten nicht mehr befürchten, vertrieben zu werden. Innerhalb des Gemeindebannes durften sie sich jedoch weiterhin nicht versammeln und nicht Gottesdienst feiern.
Eine einzige Haushaltung
1770 konnte Zürich dem österreichischen Kaiserhaus die Landesherrschaft über Ramsen abkaufen. Österreich nahm Zürich das Versprechen ab, die katholische Religion als dominierende zu erhalten, den Katholiken freie Religionsausübung zu gewähren und sie gleich zu behandeln wie die Reformierten.
Wie damals üblich musste Ramsen dem neuen Landesherrn Treue versprechen. In dieser Zeremonie forderte Zürichs Vertreter von den Ramsern unter anderem: Liebt einander und gönnt einander Gutes. Schaut eure Gemeinde als eine einzige Haushaltung an, in der jeder dazu verpflichtet ist, den Nutzen des andern zu fördern wie seinen eigenen. Lasst euch als Reformierte und Katholiken nicht dazu hinreissen, einander mit eifersüchtigen und verächtlichen Augen anzuschauen oder gar einander am Feiern eurer Gottesdienste zu hindern. Denkt daran, dass ihr dem gleichen Gott dient und dass es nicht in eurer Macht steht, Herzen zu lenken. Allein der ewige Gott kann Herzen erleuchten und beurteilen.
Taufe und Abendmahl
Erst mehr als 20 Jahre nach dem Wechsel der Landesherrschaft konnten die Reformierten mit dem Bau eines Schul- und Bethauses beginnen. Dafür legten sie viel Geld zusammen und transportierten alle Baumaterialien in Fronarbeit zur Baustelle. Als 1796 Zürcherische Soldaten in Ramsen stationiert waren, um die Grenzen zu schützen, wurde das neuerbaute Bethaus mit einer Garnisonspredigt eingeweiht.
Mit der Eroberung der Alten Eidgenossenschaft durch Napoleon änderten für Ramsen die Herrschaftsverhältnisse erneut: Es kam zum Kanton Schaffhausen.
1809 bewilligte der Schaffhauser Regierungsrat den reformierten Ramsern, öffentlich Gottesdienst zu halten und «durch einen ordinierten Geistlichen alle kirchlichen Verrichtungen ausführen (zu) lassen». Von da an konnten sie in ihrem Bethaus Abendmahl feiern, ihre Kinder taufen und sich kirchlich trauen lassen.
Hunger nach Gottes Wort
Die Reformierten blieben jedoch weiterhin Mitglieder der katholischen Pfarrei und mussten dieser Steuern zahlen. Da dies immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten führte, entschied der Regierungsrat schliesslich, zwei unabhängige Kirchgemeinden zu bilden und die vorhandenen Gebäude, Grundstücke und Finanzen aufzuteilen. Dadurch konnten die reformierten Ramser 1839 ihr Bethaus zur Kirche erweitern und einen Friedhof anlegen.
Auch die Kirchensynode befasste sich mit der Situation in Ramsen. Pfarrvikar Johann Konrad Mägis, der die Evangelisch-Reformierten von Schaffhausen aus betreute, sagte über sie: «Der frühere Druck war dieser Gemeinde wohlthätig, die Entbehrung alles Gottesdienstes hat einen Hunger nach Gottes Wort erweckt; der politische Druck hat grossen Fleiss und Sparsamkeit erzeugt. Die Sehnsucht nach Gottes Wort hat sie zu bedeutenden Opfern bewogen.»
Eigene Kirchgemeinde
Dank ihrem eigenen Einsatz und Dank Unterstützung von aussen brachten die reformierten Ramser genug Geld zusammen, um einen Pfarrer entlöhnen und um ein Pfarrhaus bauen zu können. Beides war nötig, damit sie eine eigene Kirchgemeinde sein konnten.
Die Errichtung von zwei unabhängigen Kirchgemeinden entschärfte die Konflikte zwischen Reformierten und Katholiken. Doch Spannungen gab es noch bis gegen Ende des letzten Jahrtausends. Gott sei Dank entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten ein gutes ökumenisches Miteinander der christlichen Konfessionen.
Roter Faden
In den letzten 1’175 Jahren änderten sich die kirchlichen und politischen Verhältnisse und die konkreten Lebensbedingungen der Menschen immer wieder. Wie ein roter Faden zieht sich aber der Glaube an Jesus Christus durch diese Zeit – unterschiedlich gefärbt, dicker oder dünner, offensichtlicher oder verborgener. Dieser gelebte christliche Glaube in all seinen Ausprägungen machte Ramsen, die Schweiz, Europa zu dem, was sie wurden.
Heute scheint es, dieser rote Faden könnte sich auflösen: Glaube an Jesus Christus, Gottes Wort und kirchgemeindliches Miteinander stehen nicht hoch im Kurs. Doch am christlichen Glauben dran zu bleiben, könnte zu einer grundlegenden Erneuerung führen, die uns hilft, aus der vielfältigen globalen Krise, in der wir stecken, wieder herauszufinden.
Pfr. Urs Wegmüller