Wir dürfen uns die eigene Verletzlichkeit zugestehen und einander so verletzlich, wie wir sind, neu begegnen. Unsere eigene Menschwerdung ist gefragt.
LUKAS, KAPITEL 1, VERSE 46 BIS 53
«Meine Seele lobt Gott in seiner Grösse und jubelt über Gott, meinen Retter. Denn hingesehen hat er auf die Niedrigkeit seiner Magd. Von nun an werden mich glücklich preisen alle Menschen. Grosses hat Gott an mir getan, und Gewaltiges hat er in der Welt gewirkt: Zerstreut hat er die Hochmütigen. Mächtige hat er vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht. Hungrige hat er gesättigt mit Gutem und Reiche leer ausgehen lassen.»
Im Magnifikat (von lateinisch «magnificare», «gross machen») preist die schwangere Maria Gottes Grösse und staunt darüber, dass Gott sich ausgerechnet ihr zuwendet, die gelernt hatte, sich als Frau geringzuschätzen. Dadurch wird auch ihr Grösse, Bedeutung und Ansehen verliehen. Bis heute erinnert man sich an sie und klingt ihr mutiges Lied durch die Zeiten in unsere Ohren und Herzen.
In jener Zeit und Kultur hatten Frauen keine Stimme und keine Rechte. Das Land stand unter römischer Besatzung, und wer es wagte, Kritik an den herrschenden Zuständen zu äussern, riskierte sein Leben.
Blieb das Anstimmen eines vermeintlich harmlosen Liedes. Singend kann Maria ihre Stimme erheben. Singend ermutigt sie sich selbst und andere. Singend hält sie die Vision eines menschlichen, freien Lebens wach und lebendig.
Seit jeher sangen Menschen Kraftlieder, Befreiungslieder, Hoffnungslieder. Die biblischen Psalmen zählen dazu, ebenso wie die Gospelsongs der schwarzen Sklaven. Das Magnifikat entfaltete insbesondere in Südamerika eine grosse befreiende Kraft. «Sag mir, wo die Blumen sind», beginnt es in mir zu klingen. Sollten wir uns heute nicht auch ein Herz fassen und kraftvolle Friedenslieder anstimmen?
Maria singt ihr Lied. Es ist alles andere als harmlos. Singend stellt sie die Welt mit ihren Bewertungen und Machtverhältnissen auf den Kopf und rückt gerade so alles zurecht: Das Niedrige wird angesehen. Erniedrigte werden aufgerichtet. Hochmütige und Mächtige kommen zu Fall. Die zu wenig haben, bekommen reichlich, und die Reichen gehen leer aus.
Maria’s Lied ist der Vorgesang auf Weihnachten, wenn Gott selbst Mensch wird und sich selbst erniedrigt. Gott kommt zur Welt als kleines, verletzliches Kind. So zärtlich will Gott uns nahe sein. Da, wo wir selbst ohnmächtig, kleinmütig, elend sind.
Pfarrerin Verena Hubmann, evang.-ref. Kirchgemeinde St. Johann-Münster,
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