Stadtkirche

Grüss Gott, Sie sind in der Kirche St.Georgen Stein am Rhein willkommen. Sind Sie allein? Nein. Vielleicht sind andere da, solche, die wie Sie unterwegs sind. Andere, die hier wohnen. Vielleicht sehen Sie keinen lebendigen Menschen. Aber auch dann sind Sie nicht allein.

Je zwölf Figuren haben Sie begrüsst, nachdem Sie aus dem Tageslicht ins Halbdunkel des Kirchen-vorraumes eingetreten sind. Haben Sie etwas von der Verengung gespürt, vom Nadelöhr, durch das Sie hindurch mussten? Haben Sie bemerkt, dass Sie auf eine der Gestalten zupackend zugehen mussten, bevor Sie die Tür zum Kirchenraum öffnen konnten? Oder wollten Sie hineinstürmen, die Gestalten links und rechts liegen lassen, weil gerade ein Vorgänger die Türe offen hielt? Manchmal sind wir Zeitgenossen einander bei allem guten Willen schlechte Helfer. Diese Freundlichkeit nahm Ihnen die nötige Geduld, um die Gestalten genauer zu besehen und festzustellen, dass sie gar nicht liegen, sondern hellwach dastehen. Es liegt an unseren Dimensionen von oben und unten, die wir uns gleich beim Eintritt in die Kirche in Frage stellen lassen müssen. Die Schwerkraft hat nicht das entscheidende Wort in der Kirche. Zu unsern Dimensionen zählt auch das Zeitgefühl; auch dieses wird uns zum Fragezeichen. Wir sind gut beraten, wenn wir in den je zweimal Zwölfen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfliessen lassen. Wir erkennen: Die, die vor uns waren, sind jetzt mit uns und werden uns auch in Zukunft Türöffner sein.

Die zwölf Gestalten mit dem einen Herausgehobenen, auf den Sie vermutlich zurückgegriffen haben, um die Tür zu öffnen, erinnern Sie an Jesus und die elf Jünger, die sich an Ostern von ihm überraschen liessen. Es sind aber auch - das erkennen Sie an den Symbolen der Harfe, des siebenarmigen Leuchters, des Tempels und der Schlange - Gestalten aus dem Alten Testament, welche an der Tür wachen. Damit kommen die zwölf Stämme Israels in Sicht. Lassen Sie die beiden Türen aus einiger Distanz auf sich wirken. Stellen Sie dem Künstler Wendelin Matt, der die Figuren 1992 in die Raumgestaltung von Willy Guhl eingebracht hat, die Frage, ob er auch an die vierundzwanzig Altesten der Offenbarung gedacht habe. Seine Antwort:

«Das habe ich nicht, aber es sind sie auch.»

Und nun sind Sie in die dreischiffige Basilika getreten. Die acht Rundbogen, welche die sieben Säulen auf jeder Seite verbinden, lassen Ihnen keinen Zweifel: Das ist gute alte Romanik. Im Eingangsraum sind Sie über die Fundamente des ersten Kirchturms gegangen und stehen jetzt in der Kirche; sie war Wahrzeichen des Klosters, das 1002 - 1007 vom Hohentwiel hier an den Rhein verlegt worden ist. Die Klostergeschichte können Sie den Wandgemälden aus dem 14. oder 15. Jahrhundert entnehmen, die den Chor füllen. Hier hat die kleine Zahl der Mönche ihre gregorianischen Gesänge meditiert. Sie merken es schnell: Sie stehen in einer musikalischen Kirche. Wenn Sie einen Kanon zum Lobe Gottes anstimmen, klingt er in dieser Kirche voll und zuversichtlich auf. Aber die Säulen, das fällt Ihnen auf, wenn Sie nach vorne gehen, sind nicht alle gleich.
Vier Sandstein-Monolithen-Paare aus Rorschach haben Sie begrüsst und Ihnen bis in die Mitte das Geleit gegeben. Jetzt werden die Bogenradien etwas weiter und die Säulen etwas bauchiger: Säulentrommeln bauen sich auf. Bis zur Reformation ging der Mönchsraum bis in die Mitte des Kirchenschiffes hinaus und war durch Mauern von den Seitenschiffen getrennt. 1525 bewirkte Zürcher Einfluss die Reformation; das Kloster wurde aufgelöst. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde der ursprüngliche Grundriss durch das Einfügen von drei Säulenpaaren als organisches, ungeteiltes Ganzes erlebbar. Eine denkmalpflegerische Leistung, als noch niemand von Denkmalpflege sprach: Über den Graben von Jahrhunderten wird zusammengeführt und zum Ganzen ergänzt, was durchsichtig werden muss, ohne den eigenen Zeitcharakter zu verleugnen:
Die Zeit der zusammengesetzten Kirchen nach der Reformation baut zusammengesetzte Säulen, während die im Hochmittelalter geforderte Einheit Monolithe brauchte. Unterdessen sind Sie in der Kirche etwas heimisch geworden und spüren, dass der Kirchenbau ein Werk von neun Jahrhunderten ist. Das romanische Halbdunkel ist einem Licht gewichen, das eine verhaltene Festlichkeit aufglänzen lässt. Die Sonne findet den Tagesweg durch die Kirche und wirft den Widerschein ihres Leuchtens auf Wände, Säulen und Figuren im Chor. Alte Romanik? Ja und Nein. Die alte Klosterkirche war im Licht gedämpfter. Nur durch kleine Rundbogen - Lichtschlitze könnte man sie nennen - fand es Eingang. Das Geheimnis des Glaubens, - das Sakramentenhäuschen vorne im Chor weist noch darauf hin - sollte nicht durch Licht von der Welt draussen beunruhigt werden.Die Gotik erlebte es umgekehrt: Das Geheimnis des Glaubens musste als heller Schein aus dem lichten Himmel in das Dunkel eindringen. In der Nachreformations-Zeit wurde im Barock mit romanischen Mitteln - Rundbogenvergrösserung - die gotische Authellung nachzuvollziehen versucht. Und nach der Aufklärung wurde 1822 die Decke des Mittelschiffes angehoben, um grössere Fenster und damit mehr Licht möglich zu machen. Wenn Sie jetzt gerade nach oben und zum Licht blicken: Dieses will in der Kirche bleiben. Darum haben Willy Guhl und die Architekten Scherrer und Hartung, welche die Restauration von 1989 bis 1992 geleitet haben, die helle Lasierung gewählt, welche das Sperrholz der Decke deckt. Weil wir den Wandel brauchen, haben sie Lichtlamellen anbringen lassen, welche die Decke gliedern. Der Wechsel zwischen heller und dunkler, härter und weicher bestimmt alle Holzteile, die Guhl vom Westwerk beim Eingang bis zum Abendmahlstisch aus leichtem Tannenholz und schweren Eichenholz zusammenfügen liess. Damit wird dem Spiel des Lichts im Raum eine diskrete weitere Komponente zugefügt, welche theologisch als Reflex der Zweinaturenlehre für Christus zu begreifen ist: Christus - wahrer Mensch und wahrer Gott, der die Gegensätze nicht aufhebt, sondern austrägt. Für so viel Theologie bitten wir Sie in den Chor. Nehmen Sie Platz auf einem der Guhl-Stühle, die mit dem Rundbogen die Wand beleben und eine ferne Erinnerung an das mittelalterliche Chorgestühl wieder aufleben lassen. Im Abendmahlstisch begegnen Ihnen wieder die Matt-Gestalten, die Sie an der Türe begrüsst haben. Vierzehn sind es hier. Vierzehn Geschlechter tragen die biblische Geschichte von Abraham zu David, von David in die babylonische Gefangenschaft und aus dem Exil zu Jesus. Drei der vierzehn haben - das sahen Sie, als Sie zum Chor traten - die Last der Vergangenheit bereits abgestreift und wenden ihre Köpfe der Zukunft zu, dem Advent. Hier beginnen Sie zu verstehen, warum die Kopfform nach oben offen, wie unausgefüllt ist: damit der Adventliche unsere Halbheiten ganz mache. Und wenn Sie jetzt aufstehen und zum Ambo gehen: Hier sind drei Figuren, eckige wie Sie und ich. Alle haben Füsse, nur der in der Mitte nicht - der braucht keine mehr, er ist auferstanden. Also so etwas wie ein Gang nach Emmaus. Aber wollte Ihnen das Ganze, bevor Sie genauer hinblickten, nicht wie eine Kreuzigung erscheinen? Dann ahnen Sie, warum im Johannes-Evangelium der Gekreuzigte zugleich der Erhöhte ist.

Hinter Ihnen im Chor sind die Glasfenster von Werner Schaad vom Jahre 1932, die mit dem offenen Kreis in allen Farben spielen, in die Kreuzform der Fenster eingebracht.

Schauen Sie jetzt nach Westen, so umflutet, wenn der Tag sich neigt, das Sonnenlicht indirekt die Metzler-Orgel von 1992, deren Aufbau aus der Gliederung klar ablesbar ist und deren Schnitzereien auf die Basler Kirchenversammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung hinweisen, die während dem Orgel-Bau ihre Hoffnungsakzente gesetzt hat. Aber die Orgel ist zum Hören da.

Kommen Sie wieder, wenn sie gespielt wird.

Georg Stamm
Bild wird geladen...
Bild wird geladen...
Bild wird geladen...