"Erkenntnis und Liebe." Wort auf den Weg

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«Die Erkenntnis bläht auf, die Liebe aber baut auf.» (1Kor 8,1). Predigt vom 25.8.2024
Roland Diethelm,
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater,
und dem Herrn Jesus Christus!

Liebe Gemeinde

«Nun zur Frage des Opferfleisches!» So beginnt unser Abschnitt im ersten Brief des Apostels Paulus an seine Gemeinde in Korinth.
Speisegebote zu diskutieren würden wir heute nicht in der Kirche erwarten. Wir Reformierten sind der Überzeugung, dass Glaube nichts mit Essensregeln zu tun habe. Wohl aber werden solche Ernährungsregeln heute intensiv dort thematisiert und ausgefochten, wo es um Ethik und Optimierung des guten Lebens geht. «Nun zur Frage des Veganismus,» könnten wir heute sagen.
Und schon vor 2000 Jahren bestand die Alternative darin, entweder die Speisegebote einzuhalten und faktisch vegetarisch zu leben oder sich in aller Freiheit darüber hinwegzusetzen und dem Thema die Bedeutung abzusprechen.

Lassen Sie es mich kurz erklären, worum es damals ging.

Jede Familie hatte in er Antike einen Hausgeist oder Lar Familiaris , mit dem sie verhandeln konnte, und jede griechische oder römische Stadt hatte eine Vielzahl von Tempeln. Die Götter mussten beachtet werden, damit sie Zufall und Umstände zugunsten der Römer oder Griechen beeinflussen konnten. Diese vertragliche Beziehung wurde als „do ut des “ ausgedrückt, was heisst: „ich – Mensch – gebe, damit du – Gott – gibst“.

Im Kern war die antike griechisch-römische Religion ein berechnendes Geschäft. Der Zufall wurde dem Willen der Götter zugeschrieben. Opfer und Anbetung waren Mittel, um den Zorn eines Gottes abzuwenden, Schaden zu verhindern oder Vorteile in der Landwirtschaft, Gesundheit, im Geschäft, in Liebesbeziehungen oder im Krieg zu erlangen. Oder einfach eine Gelegenheit, um mit Freunden ein gutes Steak zu essen.

Tatsächlich war die Religion das Herzstück des gesellschaftlichen Lebens. Um eine schöne Zeit mit ihren Freunden zu verbringen, war für die meisten Menschen der Kontakt mit einem Gott erforderlich, der als Ehrengast, Zeremonienmeister oder Gastgeber in den Säulenhallen oder blühenden, schattigen Anlagen seiner eigenen Wohnstätte, in des Gottes Schrein oder Tempel fungierte.

Die meisten Menschen assen nie Fleisch und tranken nie übermässig guten Wein, es sei denn, es war in einem religiösen Rahmen erlaubt und organisiert. Es gab die exklusiven Clubs, die öffentlichen Kulte und die alltäglichen Riten. In allen wurden fast alle Götter mit Nahrungsopfern verehrt. Jeder Tempel hatte einen Opferaltar, und in allen Städten gab es einige freistehende Altäre. Je wichtiger der Gott oder je wichtiger der Anbeter, desto grösser war das geschlachtete Tier.

Neben Opferaltären gab es in Tempeln auch Küchen und Bankettsäle, um das „Götzenopferfleisch“ zu verwerten. Bankette in heidnischen Tempeln waren üblich und die Tempel fungierten als Restaurants.
Opfer waren in der Regel Haustiere: Schweine, Schafe, Ziegen, Rinder oder gelegentlich auch Hunde. Teile des Tieres wurden auf dem Altar verbrannt und die Teilnehmer assen dann das übrig gebliebene Fleisch.

Bei öffentlichen Festen bot dies ärmeren Bürgern die seltene Gelegenheit, Fleisch zu essen. Für den Normalbürger war das das einzige rote Fleisch, welches das ganze Jahr über verfügbar war, das „Götzenopferfleisch“, das in Tempelrestaurants und bei Opferfeiern wie den Elysischen Mysterien, dem Mithrasfest mit Fleisch, Blut, Brot und Wein, den Bacchus-Orgien oder Isis-Festen zu finden war.

Soweit die griechisch-römische Welt. Korinth als eine der wichtigsten Hafenstädte desrömischen Reiches und zweitgrösste griechische Stadt funktionierte ganz gewiss genauso.

Für einen Juden war es undenkbar, Götzenopferfleisch zu essen und sich so zu verunreinigen.

Manche griechischen Christen waren noch an den alten hellenistischen Kult gewöhnt, den Juden und Christen Götzendienst nannten, sodass sie diese Prägung nicht einfach hinter sich lassen konnten. Für sie war es die alte grauenvolle Welt vor ihrer Bekehrung. Im Blick auf ihr unsicheres, ängstliches Gewissen bezeichnet Paulus sie als „schwache“ Christen.

Andere wiederum beriefen sich auf ihre Erkenntnis, dass es in Wirklichkeit keine hellenischen Götter gebe – es seien eben Götzen, und das Götzenopferfleisch ganz gewöhnliches, neutrales Fleisch bleibe. Grundsätzlich stimmt Paulus diesen „starken“ Christen zu. Es gibt nur einen Gott, auch wenn die Menschen sich viele Götter und Götzen erdacht und gemacht haben. – Allerdings, im Blick auf das Miteinander in der Gemeinde ist diese Erkenntnis ein Problem.

In Korinth gab es also zwei Gruppen: die einen assen weiterhin Fleisch. Die anderen verzichteten darauf. Beide begründeten ihr Verhalten mit ihrem Glauben. Die einen sagten: Es gibt nur einen Gott, die heidnischen Götzen sind nichtig und können uns gleichgültig sein. Dem Fleisch passiert nichts, selbst wenn es als Opferfleisch dienen muss. Darum können wir es bedenkenlos essen. Die Götzen sind per definitionem Nicht-Götter. Indem wir das ihnen geopferte Fleisch essen, ja, indem wir es sogar in ihren Tempeln verzehren, demonstrieren wir unsere christliche Freiheit von all den Mächten und Gewalten, die uns früher gebunden hielten.

Offenbar gelangte von dieser Gruppe über die Ägäis aus Korinth nach Ephesus, wo Paulus längere Zeit blieb, die Frage an Paulus: „Paulus, ein Christ darf doch Fleisch essen, auch wenn es den hellenischen Gottheiten geweiht wurde. Wir haben die Erkenntnis, dass solche Gottheiten nichts sind, es gibt sie gar nicht, von daher haben wir doch die Freiheit zu essen, auch wenn sich andere bei uns in der Gemeinde daran stören, oder?“

Du hast, Paulus, dieser Haltung etwas abgewinnen können. Ja, du hast sie sogar «Erkenntnis» genannt und damit dem liberalen, freiheitlichen Flügel der Korinther Gemeinde Recht gegeben.

Und doch hast du auch um die anderen gewusst, um die, die lieber auf den Fleischkonsum verzichten, radikal verzichten, als sich durch Götzenopferfleisch zu kompromittieren. Auch sie nehmen ihren Glauben an Christus und an den Gott Israels ernst. Auch sie sehen die Götter und Mächte zu nichtigen Götzen degradiert. Doch umso mehr brauchen sie die Trennung von den heidnischen Kulten und ihrer eigenen Vergangenheit. Diese Trennung muss konsequent und ohne Rückfälle vollzogen werden. Denn irgendwie haben die Götzen ja noch Macht, nicht, weil sie von sich aus etwas wären, sondern weil sie durch menschliches Verhalten zu etwas gemacht werden.

Menschen haben Umgang mit den Götzen, räumen ihnen Macht ein, sprechen von ihnen, denken an sie oder verzehren gedankenlos das ihnen geopferte Fleisch. Die Bindung an den einen Gott wird dadurch gefährdet, gelockert und geht schlimmstenfalls verloren. Und das darf nicht sein! Nennen wir sie die Puristen.

Wenn ich es richtig verstehe, Paulus, sagst du, die Liberalen, die sich die Freiheit nehmen, das Fleisch zu essen, das den Götzen geopfert wurde, haben zwar Recht. Aber die Puristen, die sich von allem fernhalten wollen, was ihr Gewissen belasten könnte, verdienen als die «Schwachen» unbedingte Rücksichtnahme. Recht zu haben ist nicht das Kriterium, sagst du. Erkenntnis ist nicht das Kriterium.

Was aber ist das Kriterium, Paulus? Du sagst: die Liebe. Die Liebe ist das Kriterium. «Die Erkenntnis bläht auf. Die Liebe baut auf.»

«Gebt aber acht, dass diese eure Freiheit den Schwachen nicht zum Anstoss werde!»

Und damit haben in der Frage des Götzenopferfleischs die Puristen gewonnen. Und alle, die in ihrem Glauben an Christus erkannt haben, wie frei sie geworden sind, müssen zugunsten von ihnen als den «Schwachen» auf die Rechte aus ihrer Freiheit verzichten – der Liebe wegen.

Paulus war kein Freund der Puristen. Seine laxe Beobachtung, seine Nicht-Beobachtung der jüdischen Speisegebote hatte ihm fünf Mal die Synagogenstrafe der Geisselung, der öffentlichen Auspeitschung eingebrockt. Und dennoch nimmt er sie in Schutz, die Puristen. Und sagt uns: «Wir wissen ja, dass wir alle Erkenntnis besitzen. Die Erkenntnis bläht auf, die Liebe aber baut auf. Wer meint, etwas erkannt zu haben, hat noch nicht erkannt, was Erkenntnis heisst. Wer aber Gott liebt, der ist von ihm erkannt worden.»

Liebe ist die richtig angewandte Erkenntnis. «Wer meint, etwas erkannt zu haben, hat noch nicht erkannt, was Erkenntnis heisst.» Dazu möchte ich Ihnen nun eine Geschichte erzählen:
Ein alter Mann trifft einen jungen Mann, der ihn fragt:
"Erinnern Sie sich an mich?"
Und der alte Mann sagt nein. Der junge Mann erzählt ihm, dass er sein Schüler war, und der Lehrer fragt:
"Was machen Sie so, was machen Sie im Leben?"
Der junge Mann antwortet:
"Nun, ich bin Lehrer geworden."
"Ach, wie gut, so wie ich?" fragt der alte Mann.
"Nun, ja. Ich bin Lehrer geworden, weil Sie mich inspiriert haben, so zu werden wie Sie."
Der alte Mann wird neugierig und fragt den jungen Mann, wann er beschlossen hat, Lehrer zu werden. Und der junge Mann erzählt ihm die folgende Geschichte:
"Eines Tages kam ein Freund von mir, auch ein Schüler, mit einer schönen neuen Uhr herein, und ich beschloss, dass ich diese schöne Uhr haben wollte.
Ich habe sie ihm gestohlen, ich habe sie ihm aus der Tasche genommen.
Kurze Zeit später bemerkte mein Freund, dass seine Uhr fehlte, und beschwerte sich sofort bei unserem Lehrer, der Sie waren.
Dann wandten Sie sich an die Klasse und sagten: "Die Uhr dieses Schülers wurde heute im Unterricht gestohlen. 'Wer auch immer sie gestohlen hat, bitte gib sie zurück.'
Ich habe sie nicht zurückgegeben, weil ich es nicht wollte.
Als die Uhr nicht zurückkam, schlossen Sie die Tür und sagten, wir sollten alle aufstehen und einen Kreis bilden.
Sie wollten unsere Taschen nacheinander durchsuchen, bis die Uhr gefunden würde.
Sie haben uns aber gesagt, dass wir die Augen schliessen sollen, weil Sie nur nach der Uhr suchen würden, wenn wir alle die Augen geschlossen hätten.
Wir taten, wie uns geheissen wude.
Sie gingen von Tasche zu Tasche, und als Sie meine Tasche durchsuchten, fanden Sie die Uhr und nahmen sie. Sie haben die Taschen aller durchsucht, und als Sie fertig waren, habens Sie gesagt: "Macht die Augen auf. Wir haben die Uhr.'
Sie haben mich nicht verraten und die Episode nie erwähnt. Sie haben auch nie gesagt, wer die Uhr gestohlen hat. An diesem Tag haben Sie meine Würde für immer gerettet. Das war der beschämendste Tag in meinem Leben.
Aber das ist auch der Tag, an dem ich beschlossen habe, kein Dieb, kein schlechter Mensch zu werden. Sie haben nie etwas gesagt, nicht einmal geschimpft oder mich zur Seite genommen, um mir eine Lektion Moral zu erteilen.
Ich habe Ihre Botschaft allerdings klar verstanden. Dank Ihnen habe ich verstanden, was ein echter Erzieher tun muss.
Erinnern Sie sich an diese Episode, Herr Professor?
Der alte Professor antwortete: "Ja, ich erinnere mich an die Situation mit der gestohlenen Uhr, die ich in jedermanns Tasche suchte. Ich habe mich nicht an dich erinnert, weil auch ich die Augen geschlossen habe, während ich die Taschen nach der Uhr durchsuchte.'
Das ist die Essenz des Lehrens, der Erkenntnis:
Wenn man, um jemand zu verbessern, ihn demütigen muss, weiss man nicht, wie man lehrt.
«Wir wissen ja, dass wir alle Erkenntnis besitzen. Die Erkenntnis bläht auf, die Liebe aber baut auf. Wer meint, etwas erkannt zu haben, hat noch nicht erkannt, was Erkenntnis heisst. Wer aber Gott liebt, der ist von ihm erkannt worden.»
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Gedanken in Jesus Christus. Amen.
Schulanfangsgottesdienst
26.08.2024
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