Berauschender Blick in die Geschichte
Der Streifzug mit Willi Bächtold vom Verein für Heimatkunde durch 1400 Jahre kirchliches Leben im Schleitheimertal bot viel Neues. Für die Präsentation hatte Doris Brodbeck seine Funde fotografiert und zusammengestellt.
Doris Brodbeck,
Die drei Kirchgemeinden Siblingen, Beggingen und Schleitheim wollen sich mit der Veranstaltungsreihe „Grenzgeschichten“ näher kennenlernen. Diesmal waren über sechzig Personen in der Gemeindestube in Schleitheim zu Gast und genossen anschliessend den Apéro im Museum Schleitheimertal.
Es war ein Vortrag der Superlative: Schleitheim bietet einen der grössten alemannischen Friedhöfe der Schweiz, der von zirka 430 bis um 700 benutzt worden ist. Dank der Kantonsarchäologie und der Hartnäckigkeit des Vereins für Heimatkunde fand man 1985, als man die Bodenheizung der Kirche ersetzte, Fundamente früherer Kirchen und kann nun 1400 Jahre kirchliches Leben in Schleitheim belegen. Nur auf Burg in Stein am Rhein geht die erste Kirche noch etwas weiter zurück. Die Damen blickten neidisch auf den bezaubernden Schmuck aus dem ungeplündert gebliebenen Grab der alemannischen Stifterin der ersten Kirche, das in der Kirche gefunden worden ist.
Unter katholischer Herrschaft
Willi Bächtold konnte anhand einer Seite aus der Klosterchronik die Schenkung von Schleitheim an das Kloster Reichenau im Jahr 995 nachweisen. Es ist zugleich die Ersterwähnung unseres Dorfes, damals „Sleitheim“ geschrieben. Der Abt der Reichenau besuchte darauf seinen neuen Besitz und liess sich nicht lumpen, die renovationsbedürftige Marienkirche wieder aufzubauen, zusammen mit einem Wirtschaftsbetrieb (Fronhof) oberhalb der Kirche am Ort der heutigen Gemeindestube, wo der Vortrag stattfand. Zur Kirche Schleitheim gehörte damals ein grosses Gebiet bis nach Fützen und galt als eines der ertragreichsten Einkunftsgebiete für das Kloster. 1540 verlor das Kloster Reichenau die Selbständigkeit und wurde dem Fürstbischof von Konstanz unterstellt. Mit der Reformation 1529 konnten der Abt und dann der Bischof nur noch die weltliche Macht in Schleitheim beanspruchen. Der Bischof half aber den Umbau des reformierten Pfarrhauses 1778 zu bezahlen und liess sein prächtiges Wappen über der Pfarrhaustüre anbringen, das heute noch erhalten ist.
Willi Bächtold griff auch nach einigen Kirchenbüchern und zeigte, was er alles daraus herauslesen konnte. In einem Zinsverzeichnis (Kirchenurbar) von 1368 fand er die Ersterwähnung des Namens Wanner in Schleitheim, später siedelten die Wanners auch in Beggingen. Viele weitere Namen sind zu finden, die später in anderen Teilen des Klettgaus wieder auftauchen, aber auch Namen von Weilern (Tal und Wetzenhofen) und alte Getreide wie der Vesen und Haber, die als Abgaben eingetragen waren. Dann zeigte er den Jahrzeitenrodel von 1468, als man (noch vor der Reformation), für den Seelenfrieden Messen lesen liess. Über fünfzig Spender sind aufgeführt, die einmalig oder regelmässig Gaben versprachen. Doch wenn es zu viele Arme gab im Dorf, wurden die Spenden anstelle der drei jährlichen Feiern mit je sieben Priestern den Armen gegeben. Man dachte damals also auch schon sozial, stellte Bächtold fest. Auch hier ein Superlativ: Dieser Jahrzeitenrodel ist der einzige erhaltene im Kanton neben jenen von Allerheiligen, St. Johann und Agnesen.
Bereits 1443 gab es eine Dorfverfassung (Offnung), erstellt vom Kloster Reichenau. Die Amtsmänner, welche die Interessen des Klosters und dann des Bischofs von Konstanz zu vertreten hatten, kamen aus der Familie Wanner und von 1595 bis 1800 aus der Familie Stamm. Der letzte Amtsmann Christian Stamm galt als reichster Mann in der Schaffhauser Landschaft. Er liess für sich den Hirschen und für seine Töchter die währschaften Häuser Adler, Unot und Salzbrunnen erbauen. Nicht nur die Reichenau profitierte also von den Schleitheimer Einnahmen!
Was das Taufbuch erzählt
Als Beggingen 1644 kirchlich selbständig wurde, bekam es sein eigenes Taufbuch. Vorher waren die kirchlichen Handlungen für die Begginger Bevölkerung im gemeinsamen Taufbuch notiert, aber separat geführt. Einmalig übrigens sind im Taufbuch auch die ausdrücklich Einträge von Täuferkindern zu finden, die in der Kirche getauft worden sind, auch wenn das nicht der Glaubensauffassung ihrer Eltern entsprach. Das hier beschlossene Schleitheimer Bekenntnis beziehungsweise die sieben Schleitheimer Artikel von 1527 machen übrigens den Namen Schleitheim weltbekannt und viele Mennoniten und Amische besuchen jährlich hier die Wurzeln ihres Glaubens. Im Täuferzimmer im Dorfmuseum ist das vierte noch erhaltene gedruckte Exemplar zu sehen, das weltweit bekannt ist.
Tausend Plätze reichten nicht
Spannend war auch der Blick in das Kirchengebäude, wie es bis 1869 genutzt wurde – danach wurde es vergrössert. Die Kirche fasste damals 1015 Plätze, war aber zu klein, weil das Dorf 2‘500 Leute umfasste. Die Sitzordnung war streng geregelt, im Schiff sassen die Frauen nach Geschlechtern geordnet, auf den Emporen die Männer, im Chor und auf der Chorempore die Jugendlichen mit einer Aufsicht. Separat an der Seitenwand die Behörden, der Gemeinderat und der Kirchenstand. Damals gab es noch keine Orgel, nur einen Vorsänger für den vierstimmigen Gesang. Ab 1818 fand die Erweckungsbewegung im Schleitheimertal Anklang – der Dorfarzt und Vogt Martin Stamm erzählt in seinen Memoiren, wie „diese Gemütskrankheit oder Begeisterung“ viele befallen habe – mit Angst und Schweissausbrüchen, Schütteln bis hin zum Verlust des Verstandes, zerrissenen Kleidern und vielem mehr. Dies dauerte schubweise bis zu vier Wochen lang. Beruhigung kam in die Bewegung, als Pfarrer Johann Jakob Vetter, der zehn Jahre in Beggingen und danach vierundvierzig Jahre in Schleitheim Pfarrer war, biblischen Unterricht für Erwachsene anbot, um Irrtümer zu vermeiden. Er gab für die Zusammenkünfte auch ein eigenes Kirchengesangbuch heraus, bekannt als „Beggingerbüchlein“ unter anderem mit dem Lied „Gott ist gegenwärtig“.
Als die Kirche 1869 zum heutigen Bau erweitert und mit der Kuhnorgel bestückt wurde, passte der erst sechzig Jahre alte Taufstein nicht mehr. Er wurde 1990 als Springbrunnen im Unotgarten wieder gefunden. 1901 kam das heutige Turmdach dazu und erforderte die Erneuerung des Geläutes, da die Mittagsglocke von 1452 einen Sprung bekam. Die älteste Glocke ist heute das Chriesiglöckli von 1608, das seit kurzem bei der Taufhandlung den neuen Täufling begrüsst. Den Schluss des Vortrags bildete ein Rundgang zu den Geschwisterkirchgemeinden am Ort, die über den Christenrat seit vierzig Jahren verbunden sind und auch nach Stühlingen, mit denen jährlich ein gemeinsamer Gottesdienst gefeiert wird. Die gemeinsamen Regio-Gottesdienste von Siblingen, Beggingen und Schleitheim können auf eine lange gemeinsame Geschichte dieser Dörfer zurückblicken.
Es war ein Vortrag der Superlative: Schleitheim bietet einen der grössten alemannischen Friedhöfe der Schweiz, der von zirka 430 bis um 700 benutzt worden ist. Dank der Kantonsarchäologie und der Hartnäckigkeit des Vereins für Heimatkunde fand man 1985, als man die Bodenheizung der Kirche ersetzte, Fundamente früherer Kirchen und kann nun 1400 Jahre kirchliches Leben in Schleitheim belegen. Nur auf Burg in Stein am Rhein geht die erste Kirche noch etwas weiter zurück. Die Damen blickten neidisch auf den bezaubernden Schmuck aus dem ungeplündert gebliebenen Grab der alemannischen Stifterin der ersten Kirche, das in der Kirche gefunden worden ist.
Unter katholischer Herrschaft
Willi Bächtold konnte anhand einer Seite aus der Klosterchronik die Schenkung von Schleitheim an das Kloster Reichenau im Jahr 995 nachweisen. Es ist zugleich die Ersterwähnung unseres Dorfes, damals „Sleitheim“ geschrieben. Der Abt der Reichenau besuchte darauf seinen neuen Besitz und liess sich nicht lumpen, die renovationsbedürftige Marienkirche wieder aufzubauen, zusammen mit einem Wirtschaftsbetrieb (Fronhof) oberhalb der Kirche am Ort der heutigen Gemeindestube, wo der Vortrag stattfand. Zur Kirche Schleitheim gehörte damals ein grosses Gebiet bis nach Fützen und galt als eines der ertragreichsten Einkunftsgebiete für das Kloster. 1540 verlor das Kloster Reichenau die Selbständigkeit und wurde dem Fürstbischof von Konstanz unterstellt. Mit der Reformation 1529 konnten der Abt und dann der Bischof nur noch die weltliche Macht in Schleitheim beanspruchen. Der Bischof half aber den Umbau des reformierten Pfarrhauses 1778 zu bezahlen und liess sein prächtiges Wappen über der Pfarrhaustüre anbringen, das heute noch erhalten ist.
Willi Bächtold griff auch nach einigen Kirchenbüchern und zeigte, was er alles daraus herauslesen konnte. In einem Zinsverzeichnis (Kirchenurbar) von 1368 fand er die Ersterwähnung des Namens Wanner in Schleitheim, später siedelten die Wanners auch in Beggingen. Viele weitere Namen sind zu finden, die später in anderen Teilen des Klettgaus wieder auftauchen, aber auch Namen von Weilern (Tal und Wetzenhofen) und alte Getreide wie der Vesen und Haber, die als Abgaben eingetragen waren. Dann zeigte er den Jahrzeitenrodel von 1468, als man (noch vor der Reformation), für den Seelenfrieden Messen lesen liess. Über fünfzig Spender sind aufgeführt, die einmalig oder regelmässig Gaben versprachen. Doch wenn es zu viele Arme gab im Dorf, wurden die Spenden anstelle der drei jährlichen Feiern mit je sieben Priestern den Armen gegeben. Man dachte damals also auch schon sozial, stellte Bächtold fest. Auch hier ein Superlativ: Dieser Jahrzeitenrodel ist der einzige erhaltene im Kanton neben jenen von Allerheiligen, St. Johann und Agnesen.
Bereits 1443 gab es eine Dorfverfassung (Offnung), erstellt vom Kloster Reichenau. Die Amtsmänner, welche die Interessen des Klosters und dann des Bischofs von Konstanz zu vertreten hatten, kamen aus der Familie Wanner und von 1595 bis 1800 aus der Familie Stamm. Der letzte Amtsmann Christian Stamm galt als reichster Mann in der Schaffhauser Landschaft. Er liess für sich den Hirschen und für seine Töchter die währschaften Häuser Adler, Unot und Salzbrunnen erbauen. Nicht nur die Reichenau profitierte also von den Schleitheimer Einnahmen!
Was das Taufbuch erzählt
Als Beggingen 1644 kirchlich selbständig wurde, bekam es sein eigenes Taufbuch. Vorher waren die kirchlichen Handlungen für die Begginger Bevölkerung im gemeinsamen Taufbuch notiert, aber separat geführt. Einmalig übrigens sind im Taufbuch auch die ausdrücklich Einträge von Täuferkindern zu finden, die in der Kirche getauft worden sind, auch wenn das nicht der Glaubensauffassung ihrer Eltern entsprach. Das hier beschlossene Schleitheimer Bekenntnis beziehungsweise die sieben Schleitheimer Artikel von 1527 machen übrigens den Namen Schleitheim weltbekannt und viele Mennoniten und Amische besuchen jährlich hier die Wurzeln ihres Glaubens. Im Täuferzimmer im Dorfmuseum ist das vierte noch erhaltene gedruckte Exemplar zu sehen, das weltweit bekannt ist.
Tausend Plätze reichten nicht
Spannend war auch der Blick in das Kirchengebäude, wie es bis 1869 genutzt wurde – danach wurde es vergrössert. Die Kirche fasste damals 1015 Plätze, war aber zu klein, weil das Dorf 2‘500 Leute umfasste. Die Sitzordnung war streng geregelt, im Schiff sassen die Frauen nach Geschlechtern geordnet, auf den Emporen die Männer, im Chor und auf der Chorempore die Jugendlichen mit einer Aufsicht. Separat an der Seitenwand die Behörden, der Gemeinderat und der Kirchenstand. Damals gab es noch keine Orgel, nur einen Vorsänger für den vierstimmigen Gesang. Ab 1818 fand die Erweckungsbewegung im Schleitheimertal Anklang – der Dorfarzt und Vogt Martin Stamm erzählt in seinen Memoiren, wie „diese Gemütskrankheit oder Begeisterung“ viele befallen habe – mit Angst und Schweissausbrüchen, Schütteln bis hin zum Verlust des Verstandes, zerrissenen Kleidern und vielem mehr. Dies dauerte schubweise bis zu vier Wochen lang. Beruhigung kam in die Bewegung, als Pfarrer Johann Jakob Vetter, der zehn Jahre in Beggingen und danach vierundvierzig Jahre in Schleitheim Pfarrer war, biblischen Unterricht für Erwachsene anbot, um Irrtümer zu vermeiden. Er gab für die Zusammenkünfte auch ein eigenes Kirchengesangbuch heraus, bekannt als „Beggingerbüchlein“ unter anderem mit dem Lied „Gott ist gegenwärtig“.
Als die Kirche 1869 zum heutigen Bau erweitert und mit der Kuhnorgel bestückt wurde, passte der erst sechzig Jahre alte Taufstein nicht mehr. Er wurde 1990 als Springbrunnen im Unotgarten wieder gefunden. 1901 kam das heutige Turmdach dazu und erforderte die Erneuerung des Geläutes, da die Mittagsglocke von 1452 einen Sprung bekam. Die älteste Glocke ist heute das Chriesiglöckli von 1608, das seit kurzem bei der Taufhandlung den neuen Täufling begrüsst. Den Schluss des Vortrags bildete ein Rundgang zu den Geschwisterkirchgemeinden am Ort, die über den Christenrat seit vierzig Jahren verbunden sind und auch nach Stühlingen, mit denen jährlich ein gemeinsamer Gottesdienst gefeiert wird. Die gemeinsamen Regio-Gottesdienste von Siblingen, Beggingen und Schleitheim können auf eine lange gemeinsame Geschichte dieser Dörfer zurückblicken.